Er ist allgegenwärtig, und wenn wir ehrlich sind, lieben wir ihn: den Skandal. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht ein neuer Skandal an uns herangetragen oder ein bereits bekannter von allen Seiten beleuchtet wird. Es wird gewertet, recherchiert, kombiniert, getratscht und verurteilt. Politiker stolpern über ihre Doktorarbeit, Staaten über ihre Botschafts-Korrespondenz, Angestellte über fehlgeleitete E-Mails und Partygäste über Handykameras. Häufigkeit und Geschwindigkeit des Skandals haben zugenommen. Doch wie lässt sich diese Veränderung erklären?
Berhard Pörksen und Hanne Detel gehen dieser Frage in „Der Entfesselte Skandal“ nach. Entlang von Fallbeispielen erarbeiten sie eine Theorie des Skandals im digitalen Zeitalter. Sie legen die veränderten Rahmenbedingungen für seine Entfesselung im Netz frei. Neue Technologien und die durch sie bedingten strukturellen Änderungen ermächtigen jeden zur Skandalisierung, setzen ihn aber auch dem Risiko eines Skandals aus.
Lag die Macht zum Skandal lange Zeit in der Hand von Journalisten, befähigt heute bereits eine Handykamera zu Skandalisierung. Die klassische Macht der Massenmedien und die Funktion der Journalisten als mediale Gatekeeper sind zwar nicht gänzlich aufgehoben, zumindest aber gebrochen. Plattformen wie Twitter und Youtube erlauben es in Echtzeit, vermeintlich normatives Fehlverhalten zu ächten. Überraschend ist das perfekte Zusammenspiel von alten Massenmedien und dem als Medien-kritisch geltenden Netz: Während in Blogs, auf Twitter und anderen Plattformen Skandalisierungs-Angebote gemacht werden, verhelfen ihnen erst durch Übernahme die klassischen Massenmedien zur erfolgreichen Schlagkraft.
Zugleich setzen die neuen Werkzeuge jeden der Gefahr des Skandals aus. Bestand früher ein Zusammenhang zwischen Status einer Person und der medialen Aufarbeitung eines Skandals, gibt es heute keinen Aufmerksamkeits-Schutz für Unbekannte. Es ist ungewiss geworden, ob eine längst vergessene und vielleicht Jahrzehnte alte Äußerung neu kontextualisiert wird, eine Nachricht versehentlich den falschen Personenkreis erreicht oder eine Handykamera unbemerkt filmt. Was ein Skandal ist, entscheidet heute die Aufmerksamkeitsökonomie: Nicht die Schwere eines Fehlverhaltens und die Fallhöhe einer Person sind entscheidend, sondern das Interesse der Masse. Verstärkt wird dieser Prozess durch algorithmische Belohnung von Aufmerksamkeit z.B. durch Ranking (häufig angeklickte Nachrichten/Videos werden noch mehr Nutzern als interessant vorgeschlagen).
Als Leitgedanke steht die von Michael Seemann populär formulierte These des Kontrollverlusts im Mittelpunkt des Buches. Die verschiedenen Facetten des Kontrollverlustes über eigene Äußerungen, eigenes Verhalten und Fehlversuche des Skandalmanagements werden beleuchtet. Auch wenn man sich fragt, ob der „Kontrollverlust“ nicht eine historisch-romantisierende Zuschreibung ist, erfreut die Kombination wissenschaftlicher Thesen und junger Netz-Theorien. Generell gelingt es Pörksen und Detel im Gegensatz zu den meisten aktuellen Veröffentlichungen im Bereich Netz-bezogener Themen weder zu realitätsfern akademisch, noch peinlich berührend aufgeregt daherzukommen. Genau die in „Der Entfesselte Skandal“ gebotene Mischung aus Wissenschaft, Beispiel und Meinung möchte man öfter lesen.
Am Ende lieben wir ihn doch nicht mehr so sehr: den Skandal. Man baut ein kritischeres Verhältnis zu den oft dürftig recherchierten Skandal-Vorwürfen, der fraglichen Relevanz eines normativen Verstoßes und der selten problematisierten Rolle des Boten auf. Es steht außer Frage, dass es berechtigte Skandalisierungen gibt, doch wenn man ehrlich ist, ist es eher die Lust am Normverstoß, die die meisten Skandale anheizt. Und so hilft es vielleicht schon, manchmal einfach nicht „retweet“ zu klicken.
p.s..: In der Datenschutz vs. Post-Privacy-Debatte beziehen die Autoren explizit keine Stellung. Dennoch liefern sie hinreichend Hinweise auf strukturelle Probleme, die eine Aufweichung des Privaten forcieren (z.B.: „Das Geheimnis verwandelt sich in eine Information, die nur darauf wartet, verraten zu werden.“). „Der Entfesselte Skandal“ kann aus dieser Perspektive auch auf eine Argumention in Richtung eines offensichtlich kaum umkehrbaren Ent-Privatisierungs-Prozesses gelesen werden, ohne dass dies propagiert oder positiv gewertet wird.
[…] zwei Jahren erschien das empfehlenswerte Buch “Der entfesselte Skandal” von Bernhard Pörksen und Hanne Detel. Darin wird dargelegt, wie im digitalen Zeitalter […]