Für das Jahr 2011 hat die Europäische Union einen gemeinschaftsweiten Zensus zur EU-weiten Erfassung von Einwohnerstatistiken anberaumt. Das erinnert an die in den Achtziger Jahren in der BRD durchgeführte Volkszählung, die von lauten Protesten („Meine Daten müsst Ihr raten“) und dem nachhaltigen Urteil des Bundesverfassungsgerichts am 15. Dezember 1983 begleitet wurde. Zwanzig Jahre später wird der Ball nun flachgehalten. Volkszählung heißt nun Zensus, statt Klinkenputzen ist das Zusammenschalten von Datenbanken geboten.
Ausgehend von der überraschend verhaltenen Diskussionen um den Zensus 2011 soll an dieser Stelle in mehreren Teilen eine kulturgeschichtliche und argumentative Beleuchtung des Themas vorgenommen werden.
Warum man (wieder) zählen möchte
Trotz der Vorgaben für den Zensus durch die Europäische Union, die auf einer Empfehlung der Vereinten Nationen beruhen, sind die Argumente für eine deutsche Volkszählung durchaus national. Die letzten Volkszählungen fanden 1987 in der BRD und 1981 in der ehemaligen DDR statt. Diese Daten sind spätestens durch die Wiedervereinigung, die verstärkten innerdeutschen Migrationen und die Zuwanderung ungenau. Nach einem Zensustest im Jahr 2001 wird davon ausgegangen, dass die aktuell geschätzten Einwohnerzahlen um mindestens 1,3 Millionen überhöht sind.
Statistiken über Einwohner, Erwerbsleben und Immobilien gelten als wichtige Voraussetzung für die staatliche Entscheidungsfindung. Eine möglichst genaue Kenntnis sozio-ökonomischer Strukturen ist der Theorie nach Grundbedingung für eine optimale Planung und Verteilung von Ressourcen. Die Statistischen Ämter des Bundes und Länder erklären entsprechend die Notwendigkeit des Zensus mit der Steigerung des Allgemeinwohls:
Genaue Bevölkerungszahlen sind für eine Vielzahl von Bereichen von zentraler Bedeutung: Zum Beispiel werden der Finanzausgleich zwischen den Bundesländern und die Einteilung der Bundestagswahlkreise anhand der Einwohnerzahlen vorgenommen. Aber auch für die Planung neuer Schulen, Krankenhäuser und Einrichtungen für ältere Menschen muss man genau wissen, wie viele Menschen wo leben und wie alt sie sind. Fehlen verlässliche Bevölkerungszahlen, kann es zu Fehlentscheidungen kommen. Die Ergebnisse eines Zensus nutzen uns allen.
Quelle: www.statistik-portal.de
Man beachte die emotionale Sprache, die sich mit Reizworten wie „Schulen“, „Krankenhäuser“ und „ältere Menschen“ gezielt auf die Schwachen der Gesellschaft – Kinder, Kranke, Alte – bezieht. Eine mögliche Kritik am Zensus wird somit zur Behinderung des Sozialstaates. Wenn der Zensus „uns allen“ nutzt, schadet die Kritik im Umkehrschluss uns allen. Es deutet sich bereits an, dass trotz aller scheinbaren Unkompliziertheit der neuen Volkszählung man erpicht ist, den Zensus vorab als zweifelsfrei moralisch und datenschutzrechtlich unbedenklich darzustellen. Eine eventuelle Diskussion wird unterschwellig als unethisch aufgeladen.
Historische Zählungen
Eine ergiebige Genealogie der Volkszählung kann an dieser Stelle nicht vorgenommen werden. Drei Punkte sollen jedoch aus der Geschichte herausgegriffen werden, da sie die Intention aber auch die Skepsis gegenüber dem Zensus nachvollziehbar machen.
Zensus in der Bibel
Recht bekannt ist die Erwähnung der Volkszählung im Neuen Testament. Lukas führt in der Weihnachtsgeschichte einen Zensus als Grund für Josephs Einkehr in Betlehem an:
Es geschah aber in jenen Tagen, dass eine Verordnung vom Kaiser Augustus ausging, den ganzen Erdkreis einzuschreiben. Diese Einschreibung geschah als erste, als Cyrenius Statthalter von Syrien war. Und alle gingen hin, um sich einschreiben zu lassen, ein jeder in seine Stadt. Es ging aber auch Josef von Galiläa, aus der Stadt Nazareth, hinauf nach Judäa, in Davids Stadt, die Bethlehem heißt, weil er aus dem Haus und Geschlecht Davids war, um sich einschreiben zu lassen mit Maria, seiner Verlobten, die schwanger war.
Quelle: Lukas 2,1-5
Interessanter als diese prominente Nennung ist die Verhandlung des Themas im Alten Testament. In den Chroniken heißt es: “Und der Satan stellte sich gegen Israel und reizte David, dass er Israel zählen ließe… Dies aber missfiel Gott sehr und er schlug Israel.” Die Volkszählung scheint christlichen Vorstellungen zu widerstreben – sie sind ein Werk Satans. Fasst man den Zensus unter Herodes als Grundlage für die systematische Verfolgung junger Männer und neugeborener Jungen in Betlehem auf, erklärt sich dieses Unbehagen als Angst vor religiöser Ächtung. Ähnliche Parallelen in der vergleichsweise jüngeren Jüdischen Geschichte sind evident.
Ein Blick in die Bibel legt eine religiös verwurzelte Skepsis gegenüber der Datenerhebung durch den Regierenden offen. Es sei nicht behauptet, jemand halte einen Zensus heute noch für ein Werk Satans, ein historisches Unbehagen jedoch sollte nicht überraschen.
Leibniz’ Staatstafeln
Eine ganz andere Couleur zeigt ein Verweis auf die durch Leibniz im späten Siebzehnten Jahrhundert angeregten Staatstafeln. Leibniz, der sich eingehend mit der Theorie der Staatsführung befasste, stellte fest, dass eine effiziente Staatsräson ohne Rückgriff auf ausreichende Daten nicht möglich sei:
“Gleich wie einem Haus-Vater zu guther bestellung des Feldes nicht gnug ist, daß er den feldbau an sich selbst verstehe, wenn er die landesart und seines eignen grund und bodens beschaffenheit nicht gnugsam weis, weilen darinn von orthen zu orthen ein großer unterscheid und merckliche Veränderung sich findet; also kann man wohl kühnlich sagen, daß auch zu den Regirungsgeschafften, nicht nur allgemeine Wißenschafften, sondern auch besondere Nachrichtungen, erfordert werden.“ (Leibniz 1986, 333-334).
Quelle: Die Medialität einer kybernetischen Staatsregierung. (PDF)
Diese zur Führung der Regierungsgeschäfte benötigten „Nachrichtungen“ sind für den Gebrauch aufbereitete statistische Daten:
„schriftlich kurze[n] verfaßung des Kerns aller zu der Landes-Regierung gehörigen nachrichtungen,[…] mit solchen Vortheil eingerichtet, daß der hohe Landes-Herr alles darinn leicht finden [,] was er bey ieder begebenheit zu betrachten [,] auf einmal übersehen, und sich deßen als eines der beqvämsten instrumente zu einer löblichen selbstregirung bedienen könne“ (Leibniz 1986, 341)
Quelle: Die Medialität einer kybernetischen Staatsregierung. (PDF)
Leibniz legte diese der Bildung der Staatstafeln zugrunde, unter denen eine Art Handbuch für Regierende zu verstehen ist. Die Staatstafeln Leibniz’ zeigen die kameralistische Vorstellung, dass eine gute Staatsführung ausführliche und aufbereitete Daten benötigt und entspricht damit der heutigen Argumentation zur Notwendigkeit einer Volkszählung.
1983 – 1987 – Proteste, ein Urteil, eine Volkszählung
Die letztlich erst 1987 durchgeführte Volkszählung in der BRD wurde begleitet von erheblichen Protesten. Bereits 1983 stärkte das Bundesverfassungsgericht den Standpunkt der Kritiker und stellte in einem Grundsatzurteil fest, dass die informationelle Selbstbestimmung der Bürger eine Grundfeste der Demokratie sei und die umfassende Datenerhebung diesen Grundrechten widerspricht. Letztlich verweigerten 1987 zwar nur circa 600.000 Personen die Auskunft, die Diskussion wurde jedoch laut in der Öffentlichkeit geführt.
Spiros Simitris, von 1975 bis 1991 hessischer Landesbeauftragter für den Datenschutz stellt die Diskussion in den Kontext der rapiden Entwicklung der Datenverarbeitung seit den Sechziger Jahren, die Ängste in der Bevölkerung schürte:
“Wir haben die Diskussion über den Computer Ende der 60er Jahre begonnen. Die Datenschutzgesetze reagierten darauf in den 70er Jahren, aber die Technologie entwickelte sich immer schneller. Anfang der 80er Jahre sah man in der Volkszählung die Verkörperung aller Gefahren, die mit dem Computer einhergingen. Die Gefahr der Manipulation jedes Einzelnen durch den Computer wurde allen bewusst. Heute aber haben das Engagement für den Datenschutz und die Bereitschaft, sich energisch für seine Verbesserung und Aktualisierung einzusetzen, sehr nachgelassen.”
Quelle: zeit.de
Ob allein die Wahrnehmung der Datenverarbeitung die Angst schürte, ist sicher fraglich. Erfahrungen mit neuen Fahndungsmethoden im Kampf gegen die RAF, die Aufarbeitung der NS-Zeit mit den auf Daten basierenden systematischen Verfolgungen und die natürliche Skepsis der früheren Achtundsechziger taten ihr übriges.
Das Kostenargument
Die Geschichte der Volkszählung zeigt eine wiederkehrende Problematisierung des Themas und eine distanzierte Haltung des Bürgers zum Staat. Dieser wirkt heute einer negativen Behandlung des Themas durch die wohl schlüssigste Argumentation in einer Marktwirtschaft entgegen: Kosten. Da der Staat letztlich durch Steuereinnahmen die Ressourcen der Bürger verwaltet und verteilt, steht er in der Pflicht, dies möglichst effizient zu tun. Effizientes handeln sei aber nur durch möglichst hohe Transparenz möglich. In der moderneren Wirtschaftstheorie werden diese Informationskosten als Transaktionskosten bezeichnet. Das Modell lautet vereinfacht: Je mehr ich weiß, desto besser kann ich entscheiden, doch Wissen sammeln kostet Geld/Ressourcen.
Konsequent wird das Kostenargument gleich doppelt angebracht: Das genaue Wissen um sozio-ökonomische Strukturen erhöht nicht nur die Effizienz, auch die neue Technik des Wissenerwerbs spare bereits erheblich Kosten. Statt, wie bisher, auf die Mitarbeit aller angewiesen zu sein, soll durch die Zusammenschaltung bestehender elektronischer Datenbanken eine kosteneffiziente Zählung möglich sein:
„Der Zensus 2011 wird in Deutschland mit einem neuen Verfahren durchgeführt, das hauptsächlich die vorhandenen Daten in den Registern der Verwaltung nutzt. In erster Linie werden dies die Melderegister der Kommunen sowie die der Bundesagentur für Arbeit sein. So kann auf eine Befragung aller Einwohnerinnen und Einwohner – wie bei einer traditionellen Volkszählung üblich – verzichtet werden. Daten, die nicht aus den Verwaltungsregistern gewonnen werden können (Informationen zu Bildung, Ausbildung und Beruf), werden durch eine interviewgestützte Stichprobe erhoben. Die Auskunft kann dabei mündlich gegenüber dem Interviewer, online oder postalisch erfolgen.“
Quelle: statistik-portal.de
Die Volkszählung wird damit vollständig ökonisch diskutiert. Die mögliche Computer-Skepsis in den Achtziger Jahren hat sich in einen Glauben an den Computer gewandelt, der den Rechner nun als Vorteil statt Risiko dastehen lässt.
Im zweiten Teil soll die Kostenargumentation aufgegriffen und mit den tatsächlichen Kosten der Volkszählung verglichen, sowie die Frage beantwortet werden, wie die politische Haltung der einzelnen Fraktionen zum Zensus 2011 ist.
Arm und verschuldet zu sein hat auch seine Vorteile: Sollte mein Schweigen beim Zensus mit einem Bußgeld belegt werden, dann können die sich bei meinen Gläubigern ganz hinten anstellen. Und wird mir mit Gefängnis gedroht: Na fein, denn das bedeutet ein bequemes Bett, mehr Sex und besseres Essen!
WÄHLT!—MICH!!—AUS!!!