Vor kurzem las ich etwas überrascht, dass die 3. Ausgabe der Hack(er)bibel des Chaos Computer Clubs erscheinen wird. Die Hackerbibel 1 und 2 waren 1985 und 1988 erschienen. Sie umfassten auf jeweils rund 250 Seiten ein Sammelsurium an Anleitungen, Berichten, Essays, Selbst- und Fremddarstellungen, bereits veröffentlichte „Datenschleudern“ und eine Zusammenstellung externer Artikel aus und über die Hackerszene und konkrete Aktionen. Sie boten einen Einstieg in das Hacken durch „hands on“ Baueinleitungen technischer Geräte wie einem „Datenklo“ genannten Modem, zeigten Programmcode und elektronische Schaltungen, aber verhandelten auch politische und soziale Themen. Ich erinnere mich, wie noch in den späten 1990er Jahren die Hackerbibeln als Tipp weitergereicht wurden. Wer Hacker sein wolle, müsse diese unbedingt gelesen haben. Dabei waren sie da schon technologisch veraltet, das Wort „Internet“ fand sich in den beiden ersten Ausgaben nur jeweils einmal und sie waren letztlich eher mythische Zugehörigkeitsdokumente als relevante Schriften.
Nun ist die 3. Ausgabe erschienen – fast 40 Jahre nach der ersten Ausgabe. Das zeigt, auf was für eine Geschichte der Hack(er)szene der Chaos Computer Club zurückblicken kann, wirft aber auch die Frage auf: Warum jetzt? Wenn mehrere Jahrzehnte keine weitere Ausgabe folgte, muss der aktuelle Veröffentlichungszeitpunkt relevant sein. Um dieser Frage nachzugehen, ist es notwendig, noch einmal einen Blick auf die ersten beiden Ausgaben zu werfen. Diese sind kaum in einem Artikel ob ihres Umfangs und ihrer breiten Themenfächerung auch nur annähernd zu umreißen, aber es zeigen sich Tendenzen, die ein Verständnis der dritten Ausgabe besser ermöglicht.
Hackerbibel 1 und 2
Beide Hackerbibeln bestehen aus jeweils ca. 150 Seiten weitgehend originären Inhalten und ca. 100 Seiten Nachdrucken von Datenschleudern und anderen Quellen. Rein handwerklich wirken die ersten Hackerbibeln wie eine wilde Zusammenstellung von Texten, die ästhetisch wie eine überlange Schülerzeitung daherkommen. Aus der Wildheit der Themen ergibt sich jedoch diskursiver Querschnitt aus der Hackerkultur der späten 1980er Jahre – zumindest dessen, was die Szene als Selbstwahrnehmung dokumentieren wollte.
Bemerkenswert ist dabei der Hang zur Selbst-Historisierung, der bereits in der ersten Hackerbibel zu finden ist. Man schreibt hier aktiv an der eigenen Zeitgeschichte. Berichte von Veranstaltungen wie dem ersten Chaos Congress, Selbstdarstellungen der Figur des Hackers, der Szene und Abgrenzung zu anderen umreißen die deutsche Chaos-Szene. Doch, und das ist wichtig, auch in Hinblick auf die 3. Hackbibel: Historisierung ist immer nur eine spezifische Perspektive. Autobiographische Historisierung ist zudem in der Regel weniger eine Geschichtsschreibung als eine Eigenerzählung, die als historische Quelle durchaus wichtig und relevant ist, aber eben auch die Innenansicht darstellt und durchzogen ist von Phantasmen über das eigene Ich. Wenn die Hackerszene über die Hackerszene schreibt, schreibt sie, wie sie selbst sich sieht. Das ist durchaus relevant, denn es ist zwar oft schwer zu akzeptieren, dass eine Autobiographie stets auch eine Inszenierung durch In-Szene-setzen ist, wie letztlich jede Geschichtsschreibung immer eine Perspektive ist. Der italienische Historiker Benedetto Croce schrieb dazu bereits 1941:
»The practical requirements which underlie every historical judgment give to all history the character of „contemporary history“ because, however remote in time events there recounted may seem to be, the history in reality refers to present needs and present situations where in those events vibrate.«.
Vgl. Benedetto Croce (1941), History as the Story of Liberty, London: George Allen & Unwin, S. 19
Was Croce hier umreißt, ist die Feststellung, dass „Geschichte schreiben“ selbst der Akt der Geschichtsschreibung ist, auf den es ankommt. Wenn bei McLuhan das Medium die Botschaft ist, sind bei Croce Moment und Vorgang des Schreibens die Historie. In diesem Sinn drängt sich einmal mehr die Frage auf, warum nun, 2024, eine neue Hackbibel erscheint. Eine dritte Hackerbibel war bereits in den frühen 1990er Jahren in einer Datenschleuder als „in Vorbereitung“ angekündigt worden und wahrscheinlich wäre es interessant, der Geschichte der Nicht-Veröffentlichung nachzugehen. Nun, 2024 jedenfalls, erscheint die Hackerbibel 3 als Hackbibel 3 und damit kann man bereits am Namen ableiten, was eine Kernaussage der neuen Ausgabe ist: Die Entfernung des „er“ aus dem Hacker. Das Cover der Hackbibel 3 zeigt eine diverse Zusammenstellung von Menschen: verschiedene Hautfarben, verschiedene lesbare Geschlechtsidentitäten, verschiedene Alter. Die Hackbibel 3 führt in Titel und Aufmachung Diversität in die Selbsthistorisierung der deutschen Hackszene ein.
Das Frauenbild in der Hackerszene der 1980er
Das ist auch gut so, denn im Rückblick waren die ersten beiden Ausgaben in dieser Hinsicht schwierig, wenn nicht problematisch. Besonders die Hackerbibel 1 ist durchzogen von Klischees und Sexismen, die auf einer Selbstbeobachtung der Szene beruhen, der es jedoch noch an der diskursiven Möglichkeit fehlt, ein Fehlen von Frauen in der Technik nicht dem Charakter von Frauen zuzuschreiben, sondern gesellschaftlichen Strukturen. Und so heißt es bereits in der einleitenden Glosse „Das BASIC-Gefühl“ der ersten Ausgabe:
„Frauen sind die Dritte Welt des mikroelektronischen Zeitalters. Sie sind immun gegen Computerbegeisterung. Sie mögen die Apparate nicht.“
(Hackerbibel 1, S. 10)
Auch wenn die Passage etwas länger ist und die Sätze nicht zentral für sich stehen, zeigen weitere Textstellen im Text die gleiche Grundhaltung. Passend dazu heißt es im Bericht vom 1. Chaos Communication Congress:
„Hacken ist eine Männerdomäne. Die einzigen Frauen die auftauchen werden sind die Fernsehassistentinnen. So gesehen ist das ganze recht un-sexy.“
(Hackerbibel 1, S.17)
Da wirkt es unfreiwillig umso verstörender aus heutiger Sicht, wenn für die Eintrittspreise für den folgenden Congress “Girls”/Mädchen preiswerter gelistet werden:
Dabei gab es auch den Artikel »Mädchen und Computer«, in dem ein 13-jähriges Mädchen von ihren positiven Computer-Erfahrungen berichtet und sich die Frage stellt, warum andere Mädchen so wenig Interesse für Computer zeigen. Auch wenn der Artikel sicher gut gemeint war, zeigt die abschließende Aufforderung unter dem Artikel »Neue Medien braucht das Land. Neue Mädchen braucht das Land«, dass der Grund für das fehlende Interesse in den Mädchen gesucht wird. Man verharrt in der Meinung, dass Computerinteresse vornehmlich genderspezifisch verortet werden muss. Dass es hier ganz generell um gesellschaftliche Fragen und Machtstrukturen geht, steht noch nicht auf der Agenda.
Das wird sich mit der Hackerbibel 2 zumindest partiell ändern. In einem Artikel wird dem Computer als „geschlechtsspezifische Frage“ nachgegangen, ein Interview zu einem Computerlehrbuch für Frauen nachgedruckt (auch wenn hier wiederum die Frage gestellt werden kann, ob dies wirklich der notwendige Ansatz ist) und in den Nachdrucken anderer Quellen gibt es feministische Kritik zum Beispiel an der Bezeichnung „Ma Bell“ für die Bell Labs, da es das Mütterbild generell als schlecht diffamiere.
Die Différance des Hack(er)
Ich verrenne mich ein wenig in dem Gender-Thema. Es ist nicht das zentrale Thema der Hackerbibeln 1 und 2, aber es ist eben Teil einer intersektionalen Differenz, die die Hackbibel 3 fast vierzig Jahre später zieht, wenn sie das „er“ aus dem Hacker streicht. Es würde zu weit führen, an dieser Stelle mit dem Begriff der Différance nach Derrida zu arbeiten, aber das Aufbrechen von Binaritäten eint hier Derridas absichtlich falsch geschriebene Differenz, den modernen Gender-Diskurs und die Hack(er)szene. Es bleibt nicht bei Titel und Coverbild, sondern die Ausgabe erklärt »Queer Color Coding«, greift Diversitätsthemen immer wieder auf und spürt sehr zentral auf elf Seiten der »Feministischen Chaosgeschichte« nach. Und an dieser Stelle lohnt sich ein genauerer Blick auf den Text. Der Artikel setzt das Auftreten von Rena Tanges 1988 im Club als Demarkationslinie eines aufkeimenden Feminismus im Club, also dem Erscheinungsjahr der zweiten Hackerbibel. Doch erst um 2013 wird laut dem Artikel das Thema Awareness als offizielles Club-Thema aufgegriffen. Es ist das Jahr der #aufschrei-Bewegung und das Jahr der Aufarbeitung einer unsäglichen Geschichte um Vergewaltigungsvorwürfe, Erpressungs- und Vertuschungsversuche im Clubumfeld, die deutlich machten, dass es auch in der sonst als „lauschig“ behaupteten Hackerszene hinter verschlossenen Türen zu Machtmissbrauch und Übergriffen kam. Hier griff der gesellschaftliche Diskurs auf den Club über. Dabei waren die Initiator:innen der Aufschrei-Debatte soziagraphisch nicht einmal weit vom Club entfernt. Aber im social Internet hatte sich eine feministische Avantgarde eine Öffentlichkeit geschaffen, die in Teile des sich gern auch auf Privatheit berufenden Hackerumfeldes eingriffen.
Zehn Jahre später ist das Clubumfeld ein anderes. Es ist Normalität auf Veranstaltungen, dass es ein Awareness-Team gibt. Es werden auch hier die üblichen Diskurse um TERFs und FLINTAs geführt. Die Veranstaltungen sind bunter als früher. Regenbogen-Fahnen eher Standard als Kuriosität. Das ist gut und führt zu einer vorläufigen Antwort auf die Frage, warum es einer gedruckten Hackbibel 3 bedurfte.
Sonst ist man dem alten chaotischen Motto treu geblieben, eine wilde Zusammenstellung von technischen Anleitungen, politischen Diskursen, Meinungsstücken und Faktensammlungen zusammenzustellen. Da die Hackbibel 3 diesmal im Katapult-Verlag erscheint, der insbesondere durch seine Infografiken bekannt geworden ist, wirkt das Buch in seinem A4-artigen Vollfarb-Format auf Ökopapier mit vielen stilistisch abgestimmten Grafiken hochwertig und stimmig. Es ist nachvollziehbar, dass in den 1980er Jahren technische Anleitungen, die teils überhaupt den Zugang zu Datennetzen erst ermöglichten, um sich einer Szene anzuschließen, über den Buchhandel verteilt wurden. Es war ein Bootstrapping für Neueinsteiger:innen und eine Selbstabgrenzung der Szene, die enthusiastisch in die 1980er Jahre rauschte. Heute ist es weder notwendig, technologische Anleitungen in Buchform zu veröffentlichen, noch muss sich die Szene Abgrenzen. Sie tut es mit der Hackbibel 3 aber nicht mehr gegen das Außen, sondern gegen die eigene Geschichte. Die neue Bibel betont die Inklusion, wie bereits im Vorwort deutlich wird:
»Die Welt ist bunter, vielfältiger, unterschiedlicher geworden. Homosexualität ist in der Bundesrepublik nicht mehr per Gesetz verboten und unterschiedliche Lebensentwürfe und Bedürfnisse werden zunehmend wahrgenommen. Um die Geschlechterdiversität abzubilden, haben wir uns für eine angemessene Neuschreibung des Titels entschieden: Hackbibel statt Hackerbibel.«
(Hackbibel 3, S. 6)
Diese Abgrenzung gegen das eigene Ich zeigt sich deutlich an Details wie dem Aufgreifen der Aufmacher-Glosse „Das BASIC-Gefühl“ der Hackerbibel 1 in der Hackbibel 3 unter dem Titel „… und niemand mehr BASIC spricht“. Während 1985 in inem für die 1980er typischen Sprachduktus Frauen als technische Outsiderinnen deklariert werden, die es nicht verstünden, wenn die Männer am Tisch BASIC sprächen, setzt 2024 die autobiographische Alltagsbeschreibung einer queeren Person und ihrer Gedanken zu Inklusion Python als die neue Sprache entgegen. Das mag ein stilistisches Mittel sein, aber es würde sich wahrscheinlich lohnen, hier das Thema Diversität auch auf programmiertechnischer Ebene bei den verschiedenen Sprachmodellen zu untersuchen.
Es ist anzumerken, dass die Artikel der Hackbibel 3 weniger wild sind, professioneller geschrieben wurden, ohne dabei zu verflachen oder artig zu wirken. Ich habe mich persönlich gefreut, in einer chaotisch wirkenden Zusammenstellung von Hackerfilmen auch „Peng Du Bist Tot“ und „Welt am Draht“ zu finden, die ich auch seit jeher in meiner Liste von Hackerfilmen führe. Im Gegensatz zur Hackbibel jedoch habe ich keine Einstufung der Filme mit dem Bechdel-Test vorgenommen. Eine naheliegende Anregung. Auch hier zeigt sich das Leitmotiv der Veröffentlichung.
Materialität des Mediums
Eine Antwort auf die Frage, warum 2024 die Hackbibel 3 erschienen ist, scheint vorläufig gegeben: Mit einer gewissen Selbstkritik wird ein von den 1980er Jahren fundamental anderes Clubumfeld präsentiert. Man kann und muss hier wahrscheinlich noch weiter nachhaken und überlegen, warum ein sich als Avantgarde präsentierendes Umfeld in Diversitätsfragen dem öffentlichen Diskurs so hinterher hing und erst Mitte der 2020er Jahre in dieser Form an die Öffentlichkeit geht. Doch das soll nicht das Thema dieses Textes sein. Es kann stattdessen noch die Frage nach der Medienmaterialität gestellt werden: Warum wurde die Hackbibel auf Papier über einen Verlag veröffentlicht? Stellen wir den Produktionsaufwand und die Druckkosten beiseite, muss man im Chaosumfeld die Frage stellen, warum die Hackbibel 3 ein klassisches Verlagswerk geworden ist, das darüber hinaus zur Leipziger Buchmesse auf den Markt gebracht wird.
Ich habe dort kurz mit dem KATAPULT-Geschäftsführer Sebastian Wolter gesprochen. Er berichtete – ich hoffe, ich habe es mir richtig notiert, dass die Redaktion der Datenschleuder mit drei Verlagen verhandelt habe und KATAPULT letztlich den Zuschlag erhielt. Man habe vereinbart, dass die Veröffentlichungsrechte nach zwei (oder waren es drei?) Jahren an Redaktion/CCC zurückfallen, so dass dieser das Buch zum Beispiel selber als PDF ins Netz stellen könne. Das ist immerhin etwas und ermöglicht langfristig eine Öffnung für die Archive. Wirklich passend hätte ich persönlich eine crowd-finanzierte verlagsbegleitete Veröffentlichung gefunden, die Open Access mit hochwertigem Druck kombiniert, wie es in der Wissenschaft teils üblich ist. Vielleicht ist man hier aus der Notwendigkeit der 1980er Jahre, eine gedruckte Veröffentlichung zu Vertreibung in den 2020er in der eigenen Historie verblieben. Den Texten hätte es gut getan auch jetzt schon frei lesbar zu sein. Das ist umso wichtiger, wenn in der Hackbibel 3 ein »Wegweiser durch die Galaxie des Teilens« enthalten ist, der selber nicht geteilt wird. Immerhin ist die Linkliste öffentlich einsehbar.
Was bleibt, ist eine optisch gelungene dritte Ausgabe der Hackbibel, die weniger im Technischen als im Sozialen arbeitet. Sie ist der Versuch einer Neufindung des Clubs, der aus den 2010er Jahren gelernt hat und den Anspruch einer avantgardistischen Haltung nicht überall präsentieren konnte, wie man es sich gewünscht und erwartet hätte. Die Neuausgabe versucht sich an einer dokumentierten Kurskorrektur, nimmt sich aber zugleich weitere Änderungen, denn noch immer sei man vom Ziel einer Gleichbehandlung aller Individuen entfernt. Dass man sich gegen eine Open Access Publikation entschieden hat, mag handwerkliche Gründe haben, ist aber bedauernswert und schränkt die zeitnahe Verbreitung und diskursive Aufarbeitung dieser Selbstreflexion ein. Man darf auf eine Öffnung in den nächsten Jahren und noch weitere Auseinandersetzungen mit dem Textkorpus aller drei Bibeln hoffen. Letztlich ist Historie immer zeitgenössisch und diese hier ist die Eigen-Perspektive in der Mitte der 2020er Jahre.
Hackbibel 3. 224 Seiten. Erschienen im KATAPULT-Verlag. EUR 28,-, ISBN: 978-3-948923-82-2
[…] Hackbibel 3 – Wie das “er” aus dem Hacker verschwand Nochmal dabei: auf Leitmedium kann nachlesen wie sich die Hackerszene (gemessen an der Hack(er)bibel) verändert hat. […]