Seit einigen Jahren wird die Transmediale mit einer McLuhan Lecture in der Kanadischen Botschaft eingeleitet. Dieses Jahr wurde Cory Doctorow eingeladen, um seinen Begriff »Enshittification«, also mit Doctor kurz gesagt »… a term I coined to describe how platforms die«. Doctorow, falls unbekannt, ist ein kanadischer SciFi-Autor, Journalist, Blogger und Aktivist. Seine Bücher veröffentlicht er unter einer Creative Commons Lizenz, hat fast zwei Jahrzehnte für BoingBoing geschrieben und hinterlässt bei mir immer wieder eine Träne da er, aus verständlichen, eine Nutzung seiner Bücher für Audible verweigert (aus verständlichen und erklärten Gründen).
Die Veranstaltung wurde eingeleitet vom kanadischen Botschafter, der zugeben musste, noch nichts so recht von Doctorow gelesen zu haben, und den Begriff Enshittification als Wort elegant umschiffte – dabei hätte man ihn zu gern von einem akkuraten Anzugträger gehört. Ich selbst musste während des folgenden Vortrags mit einer Verwechslung zurechtkommen. Bisher hatte ich den Begriff fälschlicherweise als »EnTshittification« gelesen und interpretiert, also ein „t“ mehr angedichtet und daher beim Überfliegen der Überschriften und Textschnipsel, die so auf einen Einprasseln immer kopfnickend angekommen, Doctorow präge hier einen aktivistischen Begriff des »Wir nehmen das Netz in die Hand und machen es wieder besser«. Das führte auch zu einer kurzen, sehr kurzen Enttäuschung, doch dazu später mehr.
Den Begriff »Enshittification« definiert Doctorow vielerorts mit unterschiedlichen Nuancen. Exemplarisch ist der folgende Absatz aus einem Wired-Interview:
»Here is how platforms die: first, they are good to their users; then they abuse their users to make things better for their business customers; finally, they abuse those business customers to claw back all the value for themselves. Then, they die. I call this enshittification, and it is a seemingly inevitable consequence arising from the combination of the ease of changing how a platform allocates value, combined with the nature of a „two sided market“, where a platform sits between buyers and sellers, hold each hostage to the other, raking off an ever-larger share of the value that passes between them.«
Quelle: https://www.wired.com/story/tiktok-platforms-cory-doctorow/
Der im eingehenden Zitat verwendete Begriff Plattformen muss vielleicht nicht mehr groß weiter erläutert werden, nachdem es bereits ausführlichere Bücher zum Thema gibt (vgl. Michael Seemanns »Die Macht der Plattformen« oder auch die Ausführungen von Joseph Vogl in »Kapital und Ressentiment«). Als Arbeitsdefinition lässt sich Doctorows Zusammenfassung verwenden:
»Platforms are the endemic form of the internet. A platform mediates between end users and business customers: Uber has drivers and riders; Amazon and eBay have sellers and buyers; Google and Facebook have publishers, advertisers and users.«
Quelle: https://pluralistic.net/2023/08/27/an-audacious-plan-to-halt-the-internets-enshittification-and-throw-it-into-reverse/
Im McLuhan-Lecture Vortrag wiederholte Doctorow angenehmerweise nicht seine bisherigen Definitionen, sondern verschob den Fokus und die Ausarbeitung. Er verwendete Begriffe wie „colonization“ und „greedy“, die auf eine Kritik des Imperialismus und des Kapitalismus verweisen und stark in dieser Tradition stehen. Der Fokus in diesem Vortrag lag noch einmal auf dem Punkt, welche Veränderungen seiner Ansicht nach zur Enshittification geführt haben – und wie daraus ggf. Gegenmaßnahmen abzuleiten sind.
Die vier Gründe für Enshittification
- Wettbewerb: Während Wettbewerb dafür sorgt, dass konkurrierende Firmen um die Gunst der Nutzer:innen werben müssen, bedeutet dies oft, dass Funktionen und Preise so gestaltet werden, dass sie attraktiv sind und nicht Alternativ gewählt werden. Die großen Plattformen haben es durch geschicktes Lobbying und aggressive Marktstrategien geschafft, Monopole oder Quasi-Monopole zu errichten und zu verteidigen, indem sie ihre Marktmacht ausnutzen und behaupten, dass es keine besseren Alternativen gibt.
- Regulierung: Staatliche Regulierung mit drohenden empfindlichen Strafen, die über den Gewinn durch Verstöße hinausgehen, sorgen für Regel-konformes Verhalten aus rein ökonomischer Perspektive. Die vielen kleinen Unternehmen waren zu schwach und uneinig, um eine gemeinsame, starke Stimme zu finden. Mit der Konzentration der Märkte wuchs die Macht der großen Unternehmen. Sie nutzten diese Macht, um die Regulierung zu ihren Gunsten zu beeinflussen und sich mit teils abstrusen Forderungen nach Gesetzen oder Deregulation durchzusetzen.
- Digitale Selbsthilfe: Computer sind als Turing-vollständige Maschinen eigentlich in der Lage, beliebigen Code auszuführen. Das bietet die Möglichkeit zur Selbsthilfe, um gegen unliebsame (Anti-)Features vorzugehen, zum Beispiel durch den Einsatz von Abblockern. Die Tech-Branche bekämpft die digitale Selbsthilfe jedoch mit allen Mitteln, zum Beispiel, indem der Einsatz von Selbsthilfeprogrammen technologisch absichtlich erschwert und zugleich Selbsthilfemaßnahmen, wie das Dekompilieren von Apps, das Aufbrechen ihrer Verschlüsselung, um sie dann zu verändern, juristisch kriminalisiert wird.
- Tech-Worker: Angestellte aus der Tech-Branche wurden früher hofiert. Ihnen wurde suggeriert, sie könnten alles erreichen, vielleicht ihr eigenes Startup ausgründen. Sie wurden mit Massagen und Obstkörben geködert – und konnten eine Weile zumindest mit den Füßen abstimmen, wenn sie drohten, zu gehen, wenn ein Unternehmen sich falsch verhielt. Doch der Arbeitsmarkt ist nun ein anderer. Die »Perks« sind in der Regel Geschichte, Massenentlassungen an der Tagesordnung. Die Arbeiter:innen haben kaum noch Möglichkeiten, sich gegen die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen zu wehren.
Doctorows Bilanz der aktuellen Situation ist ernüchternd. Er sieht eine zunehmende Verschlechterung des Internets und seiner Nutzungsmöglichkeiten. Dennoch gibt es auch Anlass zur Hoffnung. In der EU sieht er gute Ansätze und den Willen zur Regulierung. Auch von den USA erwartet er, dass sie in Zukunft wieder Schritte in diese Richtung gehen werden.
Doctorow appelliert an die Tech-Worker, sich zu engagieren und den Beispielen zu folgen, wo über Firmen hinweg Solidarität gezeigt und Druck aufgebaut wurde. Er warnt gleichzeitig vor einer „Metastasierung“, einer „Enshittification of everything“. Durch die zunehmende Digitalisierung des Alltags wiederholt sich der Prozess der Enshittification auch in anderen Industrien. Die Hersteller verweisen auf kritische Nachfragen schulterzuckend darauf, dass es sich ja hier nur um Software handele. Das sei eben etwas anderes.
Man merkt, dass Doctorow am Begriff der Enshittification nun eine Weile arbeitet. Er ist recht ausdefiniert und Nuancen können beleuchtet werden. Die Benennung der vier Gründe für Enshittification und das Anreißen der Enshittification of Everything gaben dem Vortrag ein gutes Gesamtbild. Ich vermute, dass all dies auch in anderen Texten und Vorträgen Doctorows angerissen wurde, aber die Zusammenstellung wirkte originär für die Lecture. Einzig hätte ich mir, der ich noch in Erwartung eines weiteren „t“ in Enshittification kam, mehr konkret aktivistisches Potential erhofft. Auch wenn Doctorow mögliche Handlungsspielräume anklingen lässt, fehlt mir bei diesen Themen immer wieder das „hands on“. Hinweise darauf, was man nun tun kann. Konkret, sofort. Aber das war nicht das Thema des Vortrags und vielleicht ist das Schreiben eines Blogartikels ja auch schon ein wenig Entshittification.
p.s.:
Ausführlichere Hinweise zu einer Gegenbewegung gab Doctorow auf seinem Defcon 31 Vortrag »An Audacious Plan to Halt the Internet’s Enshittification and Throw It Into Reverse«.
Abgerundet wurde die McLuhan Lecture von einer Podiumsdiskussion. Während zunächst Frederike Kaltheuner von Human Rights Watch eine politische Verortung vornahm und sechs Forderungen an die Politik stellte, leitete die afro-karribische Kuratorin Helen Starr die Diskussionsrunde ein. Ich bin persönlich kein großer Fan von Podiumsdiskussionen, da sie oft ins anekdotische abgleiten und so ging es auch hier um eine Mischung aus der Frage, ob man seinen Daten “ownen” kann oder überhaupt will, Copyright, Fan Fiction, KIs, usw. Mein Highlight der Diskussion war der unerwartete Beginn, bei dem Starr aufforderte, das Gesagte sacken zu lassen und eine gemeinschaftliche Schweigeminute eingelegt wurde. Das würde ich mir öfter wünschen.