In letzter Zeit beschäftige ich mich verstärkt mit Archiven: Ich nutze sie, um auf alte Bestände zuzugreifen, und denke darüber nach, was ihnen fehlt. Nachdem ich mich über die Vergesslichkeit von RTL echauffierte, fiel mir auf, wie kulturell arrogant viele Kommentatoren über Archivierungswürdigkeit von TV-Programmen urteilen. Exemplarisch wird zur Notwendigkeit eines RTL-Archivs festgestellt:
„Je eher der ganze Mist verschwindet, desto besser. Das Zeugs im Klo spült man doch auch runter und hebt es nicht für die Enkel auf.
Noch besser wäre, dass das Zeugs erst gar nicht produziert und gesendet wird.“ (Quelle)
Diese TV-Toiletten-Metapher ist verbreitet. Selbst der von mir sehr geschätzte Hardware-Hacker (und passend TV-B-Gone-Erfinder) Mitch Altman postet auf seiner Facebook-Seite:
Fernsehen im Allgemeinen und die Inhalte der privaten Stationen im Besonderen werden zur wertlosen, schädlichen und zu vernichtenden Unkultur deklariert. Es wird ihnen das Existenzrecht abgesprochen, die Verhinderung ihrer Entstehung gefordert. Das alles unter dem Deckmantel eines vermeintlich objektiven Bewertungssystems von kultureller Qualität. Hier besteht jedoch ein weit verbreitetes Missverständnis, was Kultur ausmacht und somit als archivierungswürdig angesehen werden sollte.
Doch gehen wir nochmal einen Schritt zurück, und überlegen, was unter »Kultur« verstanden wird. Ein Blick ins „Metzler Lexikon der Literatur- und Kulturtheorie“ zeigt die Ursprünge:
„Im 19. Jh. wurde der Kulturbegriff in normativer Ausrichtung vom Bürgertum reklamiert: Um sich von den »primitiven« Unterschichten einerseits und vom »degenerierten« Erbadel andererseits abzugrenzen, bezeichnete man die eigene, »kultivierte« Lebensweise als eine anzustrebende Daseinsform, die häufig mit dem deutschen Konzept der »Bildung« gleichgesetzt wurde.“
(vgl. Ansgar Nünning (Hrsg), Metzler Lexikon der Literatur- und Kulturtheorie, Weimar 2008, S. 395)
Seien wir ehrlich und geben zu, dass es dieser Kulturbegriff ist, in dem wir denken und Qualität bewerten. Wir setzen »Kultur« und »Hochkultur« gleich. Es hat sich tief in uns festgesetzt, dass Medien und insbesondere das Fernsehen der Untergang des Abendlandes sind. Sie sind die Antithese zum bedrucktes Papier, wie es im 19. Jahrhundert zirkulierte. Wir sind nach wie vor literal. Zwar kritisieren wir auch geschriebene Worte, jedoch selten mit dem selben pauschalen Kulturpessimisus.
Dieser Kulturbegriff, wie er heute noch kanonisch verwendet wird, ist elitär und arrogant. »Kultur« wird gleichgesetzt mit einer der eigenen Vorstellung und Erziehung entsprechenden und daher für alle Menschen zwingend erstrebenswerten Hochkultur. Das ist falsch. Es ist einfach total 19. Jahrhundert. Gerade in Zeiten, in denen man sich gern zur progressiven Netzkultur zählt, ist der Hochkulturbegriff des 19. Jahrhundert vielleicht nicht mehr ganz en vogue. Während wir auf der einen Seite für Exportierbarkeit und Langzeiterhalt fast beliebiger Daten kämpfen, werden bestimmte kulturelle Bereiche per se verurteilt. Dabei verurteilen wir doch genau diese Überheblichkeit.
Ich plädiere stattdessen für einen Kulturbegriff, der sich an der modernen Kulturwissenschaft orientiert und jegliche Praktiken, Sinnstiftung und Artefakte umfasst. Also ein Kulturbegriff, der wertfrei vom Menschen geschaffenes umfasst. Dies beginnt beim Kaugummipapier, geht über Telefonbücher und Wagner-Opern, bis zu Sprüchen auf der Toilettenwand einer Schule. Es mag schwer fallen, sich an diesen weit gefassten Begriff zu gewöhnen. Es macht ihn jedoch nicht nutzlos, denn er betont die Bedeutung jeglicher kulturellen Errungenschaften. Und somit auch ihrer Archivierungswürdigkeit. „All Culture Has Been Contemporary“ könnte man in Anlehnung an Maurizio Nannuccis Neonskulpturen formulieren.
Letztlich ist jegliches Stück Kultur archivierungswürdig. So schmerzhaft diese Diagnose ist, sie trifft zu. Zum Zeitpunkt zeitgenössischer Archivierung ist kaum abzusehen, warum ein Artefakt zu einem späteren Zeitpunkt interessant wird. Im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte verschiebt sich der Fokus auf Geschichte. Waren es lange zum Beispiel die Inhalte (der Text), ist heute oft auch die Materialität. Man muss nur den derzeitigen Hype um die Nerd-Kultur der 80er ansehen: Raubkopierte Spiele, Actionfiguren, Demos – Dinge, die vor Jahrzehnten die selbe Diskussion um kulturellen Wert auslöste scheint heute klar beantwortet: Wir blicken gern zurück, um das heute zu verstehen. Gut, dass nicht alles mit einem Betätigen der Spülung verschwand.
Wer meint, durch seinen persönlichen Geschmack entscheiden zu können, ob etwas „Kultur“ und „archivierungswürdig“ ist, sollte sich nicht wundern, wenn jemand anderes auch meint diese Entscheidung – anders – zu treffen. Ist Twitter archivierungswürdig? Sind es Blogs? Onlinerollenspiele, die nur mit proprietärem Server funktionieren? Fragen, die wir uns in letzter Zeit verstärkt stellen. Ich möchte sie alle mit „ja“ beantworten und zugleich betonen, dass auch das noch so trashigste TV-Programm und der unerträglichste Werbespot doch bitte archiviert werden sollen. Es wird sich jemand draüber freuen und vielleicht ein bisschen mehr von unserer Welt verstehen. Depublizieren wollen wir nicht, absichtlich verlieren auch nicht.
p.s.: Es bleibt offen, ob und wie man eine weitreichende Archivierung umsetzen kann. Doch dies ist eine andere Frage. Ihr sollte nur nicht das bewertende Wegwerfen von Kultur vorausgehen.
So wie du verstehe ich den Begriff „Kultur“ auch – warum sich von wildfremden Leuten vorschreiben lassen, was wertvoll ist und was nicht? Zwar bin ich auch kein Fan von RTL oder BILD-Zeitung, aber wer weiß, welchen Nutzen deren Inhalte für die Historiker der Zukunft haben werden. Deren Quelle für unsere Zeit sollte natürlich nicht allein die BILD-Zeitung sein ;), fehlen sollte sie jedoch nicht. Die technischen Möglichkeiten für eine umfangreiche Archivierung sind heute ja auch viel eher gegeben als in früheren Zeiten. Vielleicht sollte ich mich einfrieren lassen, um zu erfahren, was von unserer Zeit ein paar Jahrhunderte später noch übrig geblieben ist.