[Triggerwarnung: Tod, Einsamkeit]
Es könnte ja sein, dass er im Urlaub sei, meint die Polizistin am Telefon. Das sei mir schon bewusst, antworte ich. Aber wir wüssten nicht, was wir jetzt machen sollten. Unser Nachbar wurde seit längerem nicht mehr gesehen, wiederhole ich. Sein Briefkasten quelle über. Sein Auto steht seit Wochen falsch geparkt vor der Tür im und sammle Knöllchen. Das sei alles unüblich. Man lese ja manchmal von Menschen, bei denen niemand mitbekommen hat, dass etwas passiert sei. Ich kann ihr jetzt nur sagen, dass wir uns als Mitmieter wundern und es wirkt, als würde etwas nicht stimmen. Sie müsse jetzt entscheiden, wie sie damit umgehe.
Kurz ist Pause. Mir ist das Telefonat unangenehm. Ich komme mir wie ein Bittsteller vor. Es ging heute plötzlich alles so schnell. Morgens noch chatteten wir mit den NachbarInnen und stellten gemeinsam fest, dass wir den Nachbarn schon länger nicht mehr gesehen haben und dies und das merkwürdig sei. Etwas überfordert haben wir sogar den Vermieter per E-Mail angeschrieben, der uns darin bekräftigte, die Polizei einzuschalten. Da Polizeikontakt immer zeitraubend ist, biete ich an, abends, nachdem die Kinder im Bett sind, 110 anzurufen. Nun sitze ich also Freitag Abend gegen 21 Uhr da und versuche, den richtigen Ton anzuschlagen. Man will ja nicht wie ein übereifriger Nachbar wirken. Und vielleicht ist ja auch nichts passiert. Wer weiß das schon.
Die Pause hat gewirkt. Die Polizistin hat sich offenbar einen Ruck gegeben. Ok, sie werde eine Streife vorbeischicken. Als würde sie mir damit einen persönlichen Gefallen tun. Es könne eine Weile dauern. Ich solle bitte erreichbar bleiben. Ich gebe noch einmal die genaue Adresse durch und buchstabiere den Nachnamen des Nachbarn. Nein, den Vornamen kann ich ihr leider nicht geben, denn den weiß ich nicht. Krass. Wir wohnen zehn Jahre hier und ich weiß seinen Vornamen nicht. Ich schüttle über mich selbst den Kopf. Wie oft habe ich ihn im Hausflur gesehen in den zehn Jahren? Hundert Mal? Zweihundert? Immer ging er still, kurz freundlich grüßend mit seinen um die vierzig Jahren die Treppen hoch. Nie beschwerte er sich über etwas. Nie sagte er was. Er war einfach immer da.
Ich bin ein wenig erleichtert, dass das Telefonat geschafft ist. Ich rechne damit, dass zwei, drei Stunden später eine Streife vorbeikommt, zwei mäßig interessierte PolizistInnen mal nach dem Rechten sehen und später versuchen, telefonisch Verwandte zu kontaktieren. Während ich auf die Streife warte, gehe ich nochmal die Fakten durch. Mehreren NachbarInnen ist aufgefallen, dass er seit Wochen nicht mehr zu sehen war. Die letzten Male, die man ihn auf der Straße sah, wirkte er kränklich. Der Briefkasten quillt über. Das Auto steht falsch geparkt vor der Tür. Im Regen konnte ich die Zettel unter dem Scheibenwischer schlecht lesen. Ein Knöllchen und ein scheinbar älterer handschriftlicher Zettel, ob er das Auto vielleicht verkaufen wolle. Bis heute wusste ich gar nicht, dass es sein Auto ist. Ein sportlicher Ford-Coupet mit weißen Ledersitzen. Hätte nie gedacht, dass das sein Auto ist. Aber heute fällt mir überhaupt das erste Mal das leicht extravagante Auto auf, das offenbar seit Wochen direkt vor unserer Tür geparkt ist.
Seit dem Anruf ist keine Viertelstunde vergangen. Ich sehe aus dem Fenster und überlege, ob es wirklich richtig war, den Notruf zu verständigen. Plötzlich halten ein großer Feuerwehrwagen, ein Rettungswagen und ein Polizeiauto vor unserem Haus. Eilig steigen viele Einsatzkräfte aus. Die Feuerwehrmänner tragen schweres Gerät. Kurz denke ich noch, was da jetzt wohl los sei, weil es nicht zum ablehnenden Ton der Polizistin am Telefon passte. Aber sie hatte es sich wohl anders überlegt. Im Hausflur ist es laut und fast ein Dutzend Männer eilt in die obere Etage. Ich öffne die Wohnungstür und spreche einen Feuerwehrmann an. Ja, ich hätte angerufen. Es sei die Wohnung rechts, nicht die daneben, wo der Name etwas ähnlich klingt. Noch einmal soll ich kurz alles zusammenfassen. Währenddessen wird heftig an die Tür des Nachbarn geklopft und gerufen. Ob es einen Balkon oder anderen Zugang gäbe, werde ich gefragt. Ob ich einen Schlüssel hätte. Während die vielen Menschen da vor der Tür stehen, will ich „Halt“ sagen, denn gleich werden sie wohl die Tür aufbrechen und dann ist es meine Schuld.
Ein Polizist kommt und nimmt meine Personalien auf. Wie alt der Nachbar denn sei? So um die vierzig schätze ich. Jedenfalls nicht sehr alt. Ob er gesundheitliche Probleme hätte? Das wisse ich nicht. Aber er habe schon oft mal eine Kiste Bier mit nach oben getragen. Ich komme mir wie eine Petze vor. Die Feuerwehrmänner nicken wissend. Welches genau sein Auto sei? Ich wundere mich, wie wenig Polizisten eigentlich wissen, während er auf einem Block kariertem Papier, für den er unbequem seinen Schenkel als Unterlage benutzt, Notizen macht. Er werde jetzt andere NachbarInnen befragen sagt er und geht. Die Rettungssanitäter setzen sich auf ihre Taschen und warten. Ich stehe noch immer eine halbe Treppe tiefer. Ich will gar nicht dabei sein. Man beratschlagt, wie man die Altbau-Dppelflügeltür aufbekommt. „Probier es mit der Karte“, höre ich. Und „Ok, hast Du gut gemacht. Du hast es versucht. Jetzt müssen wir sie aufbrechen“. Ich gehe zurück in unsere Wohnung. Die Situation überfordert mich.
Es rummst im Hausflur. Ich rechne damit, dass gleich nochmal ein Polizist vor der Tür steht, mir erklärt, dass niemand da sei, ein Urlaubsprospekt auf dem Tisch läge und man jetzt alles umsonst gemacht hätte. Doch es bleibt geschäftig im Hausflur. Aus dem Fenster sehe ich, wie die Rettungssanitäter das Haus wieder verlassen. Einer zieht sich die Handschuhe aus, desinfiziert sich die Hände und scheint kurz durchzuatmen, bevor er ins Auto steigt. Durch den Hausflur schwirren weitere Wortfetzen. Ob er mal riechen kommen wolle, fragt jemand seinen Kollegen. Ich ahne, dass der Anruf nicht umsonst war. Die Haut sei schon ledrig, heißt es Minuten später. Mir wird übel.
Es geht weiter auf und ab. Ein Polizist fragt mehrfach seine Kollegen, ob er jetzt wirklich dableiben müsse, um aufzupassen. Man könne die Tür doch schließen. Der Notarzt brauche noch Stunden, weil er in Brandenburg unterwegs sei. Doch man stellt offenbar den jüngsten Kollegen gegen seinen Willen ab. Man könne die Wohnung nicht unbeaufsichtigt lassen. Zwischendurch klingelt es bei uns und man stellt mir nochmal einige Fragen. Es ist jetzt klar: Der Nachbar ist tot. Seine älteste Post ist drei Monate alt. Seit wahrscheinlich drei Monaten liegt er da. Mumifiziert. Neben seinem Staubsauger. Um die vierzig. Niemandem ist es aufgefallen.
Die Wohnung neben ihm wird seit letztem Jahr über AirBnB vermietet. Nachts klingelt es oft, wenn irgendwelche verplanten Menschen nicht wissen, wie sie ins Haus kommen, um die Wohnung zu erreichen. Wenn sie wüssten, dass sie neben einer Leiche geschlafen haben. Kurz denke ich, dass einem richtigen Neben-Mieter vielleicht viel früher aufgefallen wäre, dass etwas nicht stimmt. Doch das ist vielleicht nur eine Ausrede, dass es mir nicht schon früher aufgefallen ist.
Am nächsten Tag steht im Hausflur eine leere Packung Kakaomilch. Offenbar Nervennahrung des Polizisten. Ich kann ihm nicht verübeln, dass er seinen Müll nicht mitgenommen hat, nachdem er stundenlang Wache halten musste. An der Wohnungstür klebt jetzt ein Polizeisiegel. Ob sie ein neues Schloss eingesetzt haben? Vorm Haus steht immer noch das Auto. Was damit wohl geschehen wird?, überlege ich. Wie lange wird es da noch stehen? Und ob wir jemals erfahren werden, was eigentlich passiert ist? Wahrscheinlich nicht. Niemand wird klingeln und die Geschichte des Nachbarn erzählen. Seine Wohnung wird einfach leer sein. Der Vermieter kann sie endlich sanieren und teuer neu vermieten. Vielleicht ja noch eine AirBnB-Bude. Das Haus wird ihn vergessen. Immerhin weiß ich jetzt seinen Vornamen. Und werde ihn auch nicht mehr vergessen.
p.s.: Grüßt mal wieder Eure NachbarInnen.
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Mir kommen die Tränen.
Ich mache mir oft Sorgen um unseren Nachbarn. Er ist schon älter, vielleicht 70 und wohnt ganz allein in seinem Haus. Er nimmt unsere Pakete an und kümmert sich um unsere Kaninchen. Manchmal sehen wir ihn ein paar Tage nicht, dann fange ich an, mir Sorgen zu machen. Manchmal klingele ich dann.
Einmal hat er mich angerufen, als wir im Urlaub waren. Ich habe zurückgerufen. Handy, Festnetz, niemanden erreicht. Was, wenn es ihm schlecht geht? Ich habe eine Nachbarin von ein paar Häuser weiter angerufen und gefragt, ob sie vorbei geht. Sie hat ihn quietschfidel im Garten angetroffen.
Also bisher ist es immer gut gegangen. Und bisher ist er immer auf alle meine zaghaften Versuche, ob er mir nicht die Nummer seiner Tochter oder einen Schlüssel zum Haus geben möchte, nicht eingegangen.
Aber vielleicht frage ich nochmal eindringlicher. Und dulde kein Ausweichen.
Leider in Deutschland kein Einzelfall. Man denkt immer das trifft nur die Alten, aber immer mehr Leute dienoch nicht im Rentneralter stehen betrifft. Das sind uns andere Länder, wie Großbritannien weit voraus. Man soll mehr auf seinen Nachbarn schauen und wenn man selber betroffen, sich selbst Hilfe suchen, denn helfen tut heute keiner
Mich erstaunt etwas die Unterstellung der Einsamkeit (siehe Triggerwarnung). Du wusstest offenbar nur wenig über den Nachbarn, auch das mit dem sportlichen Coupé war Dir neu. Dass er einsam war, ist zumindest aus der Beschreibung im Artikel nicht herauszulesen. Er hatte keinen oder wenig Kontakt zu den Nachbarn, das mag sein. Aber wer weiß schon, wie er sonst außerhalb des Hauses lebte? Interessant (wegen Deines Artikels) finde ich nun auch die Frage, ob man Kontakt zu Nachbarn haben muss, wenn man nicht bemitleidet werden will.
Wenn er viele soziale Kontakte gehabt hätte, wäre sein Tod aber vielleicht doch etwas früher aufgefallen? Klar, weiß man nicht. Aber naheliegend finde ich die Vermutung schon. Und vor allem als Triggerwarnung gerechtfertigt: Mit dem Gefühl von Einsamkeit gehen doch häufig Gedanken in die Richtung ‘Was wäre, wenn mir etwas passiert?’ einher, die sehr beängstigend sein können.
Hilflos in einer Wohnung zu liegen, kann nicht nur einsamen Menschen passieren. Einsame können allerdings als Tote länger unentdeckt bleiben. Das scheint hier und auch sonst als besonders schockierend zu wirken. Ich würde mir auch wünschen, rechtzeitig Hilfe zu bekommen, wenn ich verletzt oder mit einem Schlaganfall in meiner Wohnung liege. Es ist mir allerdings völlig egal, ob man meine Leiche schnell oder erst nach Monaten findet.
Und mich erstaunt die Empathielosigkeit (ja, die unterstelle ich jetzt einfach mal!), mit der man so nen Artikel auseinander nimmt!
*kopfschüttel*
Ich sehe die Triggerwarnung wegen Einsamkeit nicht so, dass der Nachbar einsam gewesen sein muss – sondern eher, dass der Grundtenor des Artikels ein etwas betrübter, einsamer, sentimentaler ist.
Das ist wirklich traurig. Und es würde mich genauso beschäftigen, wenn es mein Nachbar gewesen wäre.
Man malt sich das Leben des Toten aus und das macht einen traurig. Egal unter welchen Umständen er verstorben ist. Die Tatsache, das er so lange nicht irgendwo “vermisst” wurde, ist einfach traurig. Und 40 ist ja nun auch wirklich noch kein Alter :-/
Wir sind mit einem Bestatter sehr gut befreundet, der hat solche Fälle leider immer häufiger und es macht ihn fertig. Nicht der Tod – sondern der einsame Tod, den keiner bemerkt. Genau wie bei Eurem Nachbarn, werden die Personen fast zufällig erst irgendwann vermisst …
Macht Euch nicht verrückt! Euch wird es ganz sicher mal nicht so ergehen <3
Ich stehe gerade sehr ratlos vor deinem Kommentar. Ehrlich, kann einem nach einem so empathischen, ehrlichen und zu Herzen gehenden Text nicht eigentlich nur sowas wie “Mensch, wir müssen alle mehr auf einander schauen” in den Kopf kommen? In diesem Sinne: “Seid mehr lieb.” Schadet nicht.
Uff, das ist harte Kost. Auch, weil ich mir selber den Schuh anziehen muss, oft zu sehr mit mir selbst beschäftigt zu sein um die Menschen um mich herum wahrzunehmen, die sich nicht Gehör verschaffen. Die nicht laut sind.
Danke für diesen Artikel. Auch wenn er mir das Herz ein wenig schwerer gemacht hat heute.
Puh. Was für eine Vorstellung. Mir fehlen die Worte.
Danke für den Bericht aus anderer Perspektive. Ein paar Bemerkungen:
Es kommt tatsächlich nicht selten vor, dass Verstorbene erst nach längerer Zeit aufgefunden werden, wenn sie nicht aus einem konkreten Anlass vermisst werden. Eigentlich ist das auch ganz natürlich; wer keine festen Termine hat, weil er beispielsweise nicht (mehr) arbeitet und auch sonst keine regelmäßig wiederkehrenden Veranstaltungen besucht, den wird niemand unmittelbar vermissen, selbst wenn er einen Freundeskreis und auch Verwandte hat. Üblicherweise telefoniert man nicht täglich und auch nicht wöchentlich, und wenn man dann mal jemanden nicht erreicht, macht man sich nicht sofort Gedanken, sondern probiert es nächste Woche noch einmal. Hinzu kommt, dass viele Kontakte mittlerweile auch auf elektronischem Wege erfolgen; da kann es noch leichter geschehen, dass erst mit langer Verzögerung auffällt, dass jemand immer “offline” ist oder auf Ansprache nicht reagiert. Damit bleiben die Nachbarn – aber auch dort, wo der nachbarschaftliche Kontakt durchaus im Grundsatz vorhanden ist, fällt ein Fehlen normalerweise erst mit langer Verzögerung auf; es ist ja ganz natürlich, dass man zu verschiedenen Zeiten das Haus verlässt oder betritt und sich daher nicht regelmäßig sieht, und wer hält schon nach, wann er Nachbar X zuletzt gesehen hat? Selbst wenn man einmal klingelt, macht man sich normalerweise keine Gedanken, wenn keiner aufmacht. Insofern läuft es regelmäßig darauf hinaus, dass ein Leichnam entweder wegen Geruchsbelästigung oder Insektenbefall gefunden wird (dann regelmäßig binnen Tagen) oder erst dann, wenn der Briefkasten überquillt oder man den Nachbarn *wirklich* lange nicht mehr gesehen hat (dann sind es zumeist Wochen, je nachdem, wie rege der Postverkehr ist). Ich verstehe, dass man sich dann Vorwürfe macht; objektiv betrachtet ist das aber einfach der Lauf der Dinge. Dass man sich in einem Mehrparteienhaus so gut kennt, dass jemand binnen kurzer Zeit vermisst wird, ist einfach ungewöhnlich. Und nicht jedem ist es unbedingt recht, wenn Nachbarn sich unbedingt kümmern wollen – auch das wird man akzeptieren müssen.
Dass bei einer solchen Meldung (“Türöffnung”) neben der Polizei auch direkt die Feuerwehr anrückt, entspricht ansonsten dem üblichen Ablauf, denn wenn sich der Sachverhalt vor Ort so darstellt wie gemeldet benötigt man jemanden, der sich auch gewaltsam (zugleich aber möglichst zerstörungsfrei) Zutritt verschaffen kann, und das gehört als Technische Hilfeleistung zum Aufgabenspektrum der Feuerwehr. Aus demselben Grund rückt regelmäßig auch der Rettungsdienst mit aus: wenn etwas passiert ist, soll Hilfe schnell erfolgen können (auch wenn die Erfahrung lehrt, dass der Rettungsdienst meist nicht benötigt wird – entweder ist niemand da (Urlaub usw.), oder der Bewohner ist wohlauf (und hatte sein Hörgerät abgelegt), oder medizinische Hilfe ist nicht mehr erforderlich). Insofern gilt “entweder – oder”: wenn man davon ausgeht, dass ein polizeiliches Einschreiten erforderlich ist, dann auch richtig.
Eine letzte Bemerkung: 110 ist der Polizei*notruf*. Das ist natürlich der einfachste Zugangsweg zur Polizei, aber man sollte auch einmal darüber nachdenken, ob es nicht sinnvoller wäre, zu den üblichen Geschäftszeiten das örtlich zuständige Revier (in Berlin wohl: den zuständigen Abschnitt) direkt anzurufen, wenn das Anliegen kein unmittelbar dringendes ist.
Alles Liebe eurem Nachbarn wo immer er jetzt ist. Und schön, dass Du das in die Hand genommen hast, es war sicher nicht einfach.
Ich finde schon, wenn es jemanden drei Monate nicht auffällt, dass man sich nicht mehr meldet, kann man von sozialer Isolation (oder eben Einsamkeit) reden. Dafür mein ehrliches Mitgefühl an Euren ehemaligen Nachbarn, natürlich völlig unbekannterweise.
So möchte ich mal sterben.
Wenig bis keine sozialen Beziehungen, in denen man so eng ist, dass man nach drei Monaten zwangsvergesellschaftet oder gezwungen wird, persönliches Details oder gar den Schlüssel herzugeben, sind noch lange kein Grund, Einsamkeit oder ein bemitleidenswertes Leben zu führen. Offenbar war es dem Nachbarn so recht: immerhin hat er auch nie mehr als ins Treppenhaus gegrüßt.
Viele Leute in der Großstadt genießen die nicht vorhandene soziale Kontrolle. Deshalb sind sie ja da.
Für Nachbarschaftskisten etc. hätte man ja in der Kleinstadt bleiben oder sich eine Kiezgemeinschaft suchen können, ein bißchen grüßen und palavern und schon klappt’s.
Manchmal sind die Hölle eben doch die Anderen.
Genau das ist auch meine Meinung.
Ich bin aus einer kleinen Großstadt in eine mittelgroße Großstadt gezogen, genauer gesagt vom Kaiserslautern nach Dresden.
In Kaiserslautern habe Ich in einem Dorf / Ortsteil gewohnt in dem auch alle immer wussten was welcher Nachbar gemacht hat, wer ne “neue” hat usw.
Furchtbar!
Ich genieße es daher nun in einem anonymen Haus zu wohnen in dem Ich keinen meiner Nachbarn namentlich kenne.
Ich will einfach nur meine Ruhe haben und mich nicht mit Leuten beschäftigen die Ich nur kenne weil sie zufälligerweise neben mir wohnen.
Von daher finde Ich diese “Mann lag 3 Monate tot in der Wohnung” Meldungen auch nicht so schlimm, das wird mir wohl auch mal so gehen, wenn Ich bis dahin nicht verheiratet bin oder so.
Grüße aus Dresden
Philipp
Interessanter und bewegender Artikel, der einmal mehr verdeutlicht was es bedeutet, wie wir Nachbarn zu haben, die einem aus dem Urlaub Bilder schicken, die Blumen vor die Tür stellen, wenn man selbst aus einem (längeren) Urlaub zurück kommt, mit denen man sich immer (kurz) unterhält, wenn man sie trifft, ab und an mal Spiele zusammen spielt und mit einigen sogar noch gut befreundet ist, wenn sie schon Jahre weggezogen sind.
Ich stehe vor einem ähnlichen Problem. Seit 6 Wochen quillt der Briefkasten eines Mitbewohners über, ersichtlich sind auch eine Reihe amtlicher Briefe. Mehrfache Mitteilungen darüber an den Vermieter blieben ohne Reaktion bzw. wurden mit der Aussage, wir dürfen da nicht handeln; vielleicht im Krankenhaus oder Reha, abgebügelt. Für mich ergibt sich die Frage, wer trägt die Kosten, wenn nach persönlicher Intervention bei der Polizei der Einsatz doch Umsonst war und hat nicht der Vermieter eine erstrangige Pflicht aktiv zu werden.
Wer hat ggf. Hinweise, wie man sich in einem solchen Fall verhält? Eine aufgebrochene Sicherheitstür verursacht schnell Kosten von mehreren Tausend Euro.
Ich habe noch den Hinweis bekommen, dass man neben 110 auch auf dem zuständigen Polizeirevier anrufen kann. Such doch mal die Nummer raus und gib da Bescheid. Solange Du nicht falsche Angaben machst, denke ich nicht, dass Du haftest. Aber das kann man Dir auf dem Revier bzw. telefonisch sicher gut erklären. Hast Du auch schon mal geklingelt und geklopft an der Tür?
Danke für den Tip. Ich werde die zuständige Polizeidirektion konsultieren.
Bitte rufe deswegen einfach auf dem nächsten Polizeirevier an, die Beamten entscheiden dann alles weitere.
Wenn du die Haustür nicht selbst eintrittst, musst du auch nicht haften.
Und die meisten Türen bekommt man ruckzuck zerstörungsfrei auf, wenn keine zusätzlichen Riegel verbaut wurden.
Aber generell ist der Anruf bei der Polizei nie verkehrt (Dienststelle, nicht Notruf)
Warum solltest du für Kosten haften? Schildere den Sachverhalt der Polizei am Telefon, dann müssen die entscheiden wie zu handeln ist. Und dafür sind sie auch ausgebildet und auch da.
Und wenn die Polizei vor Ort ist, dann werden sie nochmal auf dich zukommen und sich den Sachverhalt schildern lassen und dann werden die entscheiden was zu tun ist.
Du wirst aber regelmäßig nie Probleme bekommen, wenn du dir verdächtig vorkommende Sachen meldest.
Das kostet den Anrufer gar nichts, es sei denn, man ruft total unbegründet an. Aber das ist ja nie der Fall. Ich habe auch die Polizei wegen eines Bekannten meiner Mutter angerufen. Er ist einfach nicht zur vereinbarten Zeit gekommen. Bei einem 80jährigen ist die Sorge ja nicht unbegründet. Es kam die Polizei, Feuerwehr und Krankenwagen. Zum Glück war nichts passiert. Der Bekannte hatte einfach einen längeren Spaziergang gemacht und die Zeit vergessen. Aber mir hat niemand deswegen Vorwürfe gemacht. Im Gegenteil: Der Polizist meinte, lieber ein Anruf zuviel als einer zuwenig.
Das ist hart. Gut, dass du dich gekümmert hast, aber sicher auch keine einfache Situation. Auch die Abwägung, ab wann es Hilfe ist, bis wohin unerwünschte Aufdringlichkeit sein könnte …
Alles Gute.
Danke für diesen Artikel.
Ich hatte schonmal einen ähnlichen Verdacht bei einem Nachbarn, aber habe ich mich nie getraut bei der Hausverwaltung/Polizei mich zu Melden aus Angst dumm da zustehen oder gar entstandenen Schaden zu bezahlen.
Die Symtome waren sogar noch schlimmer: Vom überlaufenenden Briefkasten, Bestalischer Gestank im Flur bis hin zum leer gelaufenden Feuermelder, der dauer piepste. Letztendlich war irgendwann ein Entrümpel Trupp da, weil in der Wohnung wohl ein Messie hauste.
Keine Illusionen machen. Jede und jeder stirbt allein, ob andere da sind oder nicht. Einsamkeit ist auch nichts schlimmes, wenn man sich dafür entscheidet. Schlimm ist, dass man von außen bemitleidet wird, da dies den gesellschaftichen Normen nicht entspricht. Wir empfinden jetzt Mitleid mit diesem Mann und sprechen ihm ein erfülltes Leben ab, obwohl wir ihn nicht kennen. Auch Bier und Krankheit finde ich eine interessante Verknüpfung. Nicht gekannt, aber gewertet.
Wenn es nebenan passiert öffnet es einem vielleicht die Augen, aber so ungewöhnlich ist das ja nunmal nicht. Es hätte schlicht auch nichts genützt die Leiche nach 2 Tagen zu finden, wäre ja auch dann zu spät.
Ich frage mich hier eher wieso man immer penetrant z.B. “NachbarInnen” schreibt? Darin finde ich mich nicht wieder. Nachbarn hätte es wohl nicht getan? Oder heißt es auch NachbarInnenschaft mittlerweile? (Ist nicht bös gemeint 🙂
Das erinnert mich an einen sehr netten Nachbarn aus der Kleingartenkolonie. Ein paar Monate vor seinem Selbstmord haben wir uns unterhalten über seine Kidneybohnen am Gartenzaun und er empfahl mir Rugby zu spielen, weil er das in meinem Alter gespielt hat und damit ich groß und kräftig werde. Ich war 16, er Rentner. An jenem Tag fuhren mein Vater und ich mit dem Rad zu unserem Garten, dabei mussten wir wie üblich an seinem Garten vorbei fahren. Oft habe ich meinem Vater von dem Nachbarn erzählt, weil die Kidneybohnen mich daran erinnert haben und mein Vatersich sehr für Gärten interessiert. Als wir zurückfuhren bemerkten wir einen schwarzen Mercedes und dahinter ein Polizeiauto. Ich war etwas wütend, warum parkt jemand direkt auf dem Radweg? Einer der Polizisten hat mich gierig angeglotzt und wollte mich vom Fahrrad runterschmeißen, ich war verwundert. Einige Tage später fuhren wir wieder zum Garten und trafen eine Frau im Garten des Nachbarn. Es war die Ehefrau, ich fragte wie es ihrem Mann ging, sie meinte, er hätte Selbstmord begangen. Ich war schockiert. Ich wollte sofort wissen warum weshalb. Die Gründe waren unklar. Er hätte ein haus in Spanien und war kerngesund. Er hat sich mit einer Schrotflinte in den Kopf geschossen. Von dem Knall hat jemand die Polizei gerufen. Die Geschichte erinnerte mich an Werthers Leiden von Geothe. Ich vermute der Mercedes gehörte ihm. Die Frau meinte das wäre ein Unfall. Ich war verwundert. Mir ging ein Licht auf. Einer der Polizisten dachte, mein Vater oder ich hätten ihn ermordet. Der Nachbar war sehr nett.
Furchtbar.
Ich finde den ganzen Artikel furchtbar. Da wird erst über “die Polizistin” die sich einen Ruck geben muss genörgelt. Über den Notruf angerufen, vermutlich der 100ste Anruf an dem Tag, der keinen Notfall als Hintergrund hat. Aber dann wird auch möglichst schnell einfach die Verantwortung abgeschoben. Weil dann kann man später ganz entspannt sagen, die Polizei sei ja informiert gewesen, habe aber ja nichts getan. Oder zu wenig. Auf jeden Fall falsch und man selbst hätte es besser und schneller hinbekommen.
Wo ist eigentlich der Teil, in dem Du selbst mal hingehst, klingelst oder klopfst? Das wäre wahrscheinlich aber ja noch “unüblicher” schließlich kennt man sich seit 10 Jahren nichtmal mit Vornamen.Dann lieber schnell die Verantwortung abschieben, Vermieter anrufen.
Wenn man dann aber die Musik bestellt hat auf keinen Fall bezahlen wollen. Nachher brechen die noch eine Tür auf, obwohl die ja so wenig wissen. Die Polizisten wissen überhaupt garnichts über deinen Nachbarn. Bis zu dem Moment, wo sie vor seiner Tür stehen, wissen sie nichtmal, dass er existiert. Natürlich könnten sie anhand des Namens, der Adresse, des Kennzeichen alles herausfinden. Aber wenn Du es ihnen sagen kannst, dann sind das Informationen, die ein Betreten der Wohnung rechtfertigen. Oder im Nachhinein eine Straftat ausschließen können. Einfach mal verifizieren, warum jemand Freitagabends auf die Idee kommt “Huch, mein Nachbar ist ja seit Wochen weg.”
Bestimmt ist das, was ich schreibe, unsachlich und emotional gefärbt. Bestimmt widersprechen mir viele.
Aber nachdem ich schon zigmal in derartigen Wohnungen war, dort Lebende und Tote jeder Art gesehen habe, gehört habe “Ja also die Nachbarschaft hier ist sehr gut, aber die Frau Bla haben wir seit DREI JAHREN nicht mehr gesehen oder gehört”, liest sich der Artikel leider wie eine Rechtfertigung dafür, dass man eigentlich nur sein Gewissen erleichtern wollte und die Verantwortung möglichst schnell abschieben wollte. Zum Glück war der Mann schon lange tot und nicht in einer Notlage, aus der man ihn morgens noch hätte retten können.
Ich finde du hast alles richtig gemacht. Und auch wenn du eher etwas gemacht hättest, würde es nichts ändern. Dein Nachbar wäre auch so verstorben. Wenn er eher gefunden wird ist es höchstens gut für den Vermieter.
Es ist schön, wenn es Mitmenschen gibt die aufmerksam sind und sich Gedanken machen.
Ich wünsche dir alles Gute!
Hallo Ihr Menschen da draußen…
Die Geschichte zeigt einem , wie schnell es einem Gleichgültig wird. Ist der Nachbar / in da oder nicht ? Geht es den Menschen Nebenan gut oder nicht ? Wer war schon mal in einer Situation, in der er Hilfe gebraucht hätte und niemand da war…
Ich selbst war von dem plötzlichen Tod meines Vaters sehr erschüttert. Das ging alles so schnell. Wir hatten noch so vieles vor. Die guten Gespräche fehlen. Ich war froh wenigstens an seinem Sterbebett zu sein und ihn nicht alleine da liegen zu lassen. Wie erging es also diesem Menschen? Waren seine letzten Gedanken nicht auch Hilferufe ? Warum hört mich keiner…warum war kein Nachbar da und hat sich um mich gesorgt ? Muss ich jetzt hier tatsächlich alleine liegen ?
Wir machen uns Sorgen über die Weltpolitik und kennen nicht einmal die kleinen Probleme unserer direkten Mitmenschen.
Ich wohne in einer Genossenschaftswohnung in einem schönen größeren Hof mit vielen Mietshäusern der Genossenschaft. Vor so 15 Jahren merkte ich als “Nachtsarbeiter”, dass in einer Wohnung gegenüber über Tage nachts das Licht brannte, und ich hatte die älteren Herrschaften auch nicht mehr auf ihrem Balkon gesehen. So rief ich die Genossenschaft an. Eine Stunde später rief der Verwalter der Wohnung direkt zurück: sie hatten den Hausmeister vorbeigeschickt, und es war alles gut. Ich habe das ältere Paar nie persönlich kennengelernt, nur das so gesehen.
In unserem Hof ist mittlerweile ein Generationswechsel eingetreten: Als wir da einzogen, waren wir Mitte 30, meine Große 3 ohne sonderlich viele gleichaltrige Spielkameraden. Alle Mitmieter waren älter, hatten größere Kinder und viele alt. Mittlerweile sind wir um die 50 und im Viertel schon fast alt, im Haus die Zweitältesten, die Große zieht aus. Der Hof wimmelt nahezu vor Kindern. Unsere Nachbarn, die letzten noch Verbliebenen, seitdem wir einzogen, sind Großeltern geworden…
WOW, abgesehen von der Betroffenheit die aus dem Artikel ersichtlich ist, ist das verbundene Unwissen schockierend!
Leben retten kostet keinen Geld! Wir sind (glücklicherweise) nicht in Russland!
Bei Verdacht auf einen Schaden (Gesundheit, Leben, Eigentum): Anruf bei der 112, Sachverhalt schildern, fertig. Bei den genannten Schlagworten wird die/der Disponent/-In Einsatzkräfte losschicken (müssen) um der Sache auf den Grund zu gehen.
Eine Türöffnung zur Personenrettung oder bei Wasserrohrbruch (oder anderen Lagen) dient der Gefahrenabwehr und ist eine Aufgabe der Feuerwehr.
Kosten, wenn sie entstehen, (manchmal kommen wir auch beispielsweise durch ein Fenster rein) trägt die/der Alarmierende nicht, solange keine böse Absicht dahiner steckt (Beispiel: Missbrauch des Notrufs)
Genauso wie man nicht für gebrochene Rippen bei einer Reanimation belangt werden kann.
Noch mal: Leben retten kostet einen nichts und ein Jeder sollte in der Lage sein einen Notruf absetzen zu können. Auch Frauen nachts auf verlassenen Landstraßen. Mit dem Notruf ist Hilfe alarmiert. Da muss man auch nicht aussteigen.
PS: Die Polizei stellt die Fragen um ein Bild der Lage zu bekommen. Die Beamten vor Ort haben kaum Möglichkeiten in Register zu schauen oder Datenbanken abzurufen. Immerhin geht es hier um einen Eingriff in ein Grundrecht.
ich hatte auch mal so einen Nachbarn, den wir nur noch “das Phantom” genannt haben, weil er anfangs ab und zu zu sehen war, und auch sein Auto, aber irgendwann habe ich ihn nicht mehr vorbeihuschen sehen und der Briefkasten quoll über. Allerdings kamen auch seine Gehaltszettel weiterhin an diese Adresse, aber auch Mahungen etc. (erkennbar jeweils am Umschlag). Irgendwann rief ich mal bei seiner Firma und Vermieter an – dort wurde er jedoch nicht vermisst – aber in der Wohnung tauchte er auch nicht mehr auf.
Ich bin dankbar, dass die Nachbarn meiner Mutter so aufmerksam waren, und registrierten, ob und wann der Rolladen hochgeht. Auch wenn es wirklich nicht lustig war, so einen Anruf von der Nachbarin zu bekommen: “ich habe Ihre Mutter schon ein paar Tage nicht gesehen” , so war es wichtig und hilfreich – lieber einmal mehr als zu wenig.
Ich finde es gut, wieder mehr aufeinander zu achten- Nachbarschaft zu pflegen.
Man hört von Fernsehgeräten, die mehrere Jahre ununterbrochen eingeschaltet waren. Davor im Sessel eine Mumie.
Nicht jedem wird es angenehm sein, sich vor Reisen (oder Kuren oder, hoffentlich nicht, Krankenhausaufenthalten) bei den Nachbarn abzumelden. „Niemandem ist es aufgefallen“ stimmt jedenfalls gerade nicht. Es ist ja aufgefallen und nicht einfach darüber hinweggegangen worden, als der Rahmen normaler Abwesenheiten überschritten war.
Damit ist die eigentliche Frage, ob ihn wirklich die vermuteten drei Monate lang niemand sonst vermißt hat. Es sieht ja ganz danach aus, und das stimmt dann wirklich sehr nachdenklich, nachdem doch alles auf eine berufliche Tätigkeit zu deuten scheint.
Also ich finde nicht, dass es in Deutschland an Nachbarschaftlichkeit mangelt. Ich denke es kommt eher auf den jeweiligen Wohnort und auch die Dauer der Nachbarschaft an. Wir wohnen nun seit 20 Jahren in unserer Mietswohnung und zählen damit sogar noch zu den am jüngsten zugezogenen Nachbarn hier in der gesamten Straße.
Da klingelt mal Nachbar G.A. um mir zu sagen, dass mein Autofenster noch offen steht. J.M. hebelt mal das Badezimmerfenster aus, weil ich mich ausgesperrt hab. H.B. sorgt seit 16 Jahren für meine Katze als Urlaubsdosenöffner. R.T. nimmt alle meine Pakete entgegen, wenn ich nicht da bin. H.B. und R.T. haben seitdem einen Ersatzschlüssel für die Wohnung. G.K., etwas älter, wohnt direkt nebenan und bringt öfter mal Essen/Kuchen, weil sie der Meinung ist, ich müsse es gerochen haben und nun auch Appetit darauf haben. J.M. streitet oft mit H.S., weil sein Hund nicht angeleint ist oder sein Roller zu dicht an seinem Auto steht. Und holt ihn doch da ab, wo sein Roller einen platten bekam. Als H.S. eine OP an der Wirbelsäule hatte und wochenlang nicht laufen konnte, haben wir uns unter 5 Nachbarn nach Arbeitszeiten und Möglichkeiten einen Plan gemacht um den Hund weiterhin drei Mal am Tag Gassi zu bringen. Ich könnte den ganzen Tag so weiter schreiben. Für viele sind das nur Kleinigkeiten aber man kennt so gut wie jede Lebensgeschichte in dieser Straße und erlebt wie Kinder groß werden, wie manche heiraten, manche Kinder kriegen. Einige sind untereinander befreudet, manche grüßt man nur und plaudert kurz. Aber ich würde auf jeden Einzelnen zählen, wenn ich mal Hilfe bräuchte.
Mega. Nachbarin G.K.fehlt mir noch. Wobei das bestimmt auch manchmal ein bisschen unangenehm ist 😉
Ansonsten birgt der Bericht alle Vorurteile, die ich als westliches Landei gegenüber dem Berliner Moloch habe.
Wieviele Menschen wohnen in diesem Haus, dass man sich so gar nicht kennt. Aber vielleicht ist es auch ganz anders und eher so, wie oben jm.in den Kommentaren schrieb: da war jemand ganz zufrieden, unbehelligt, unscheinbar und anonym bis auf den Namen am Klingelschild mitten unter anderen Menschen zu wohnen.
Auch wenn aktive Nachbarschaft anstrengend sein kann – so etwas möchte ich gar nicht gerne erleben 🙁
Ich bin einer von den Feuerwehrleuten, die in den letzten Jahren zunehmend solche Türöffnungen machen dürfen. Die meisten Türen bekommt man relativ einfach auf, allenfalls muss mal ein Zylinder ausgetauscht werden.
Manchmal kommen wir noch rechtzeitig — dann hat jemand hingehört, aufgepasst, die Klopfgeräusche richtig interpretiert. Schlimm sind die, die noch stunden- oder tagelang gelebt haben müssen, nachdem sie gestürzt waren, einen Schlaganfall erlitten hatten, was auch immer.
Kümmert Euch umeinander. Wir sind in der Geschichte ab dem Moment Menschen gewesen, als wir angefangen haben, unsere Kranken und Verwundeten mitzuschleppen.
ich habe von einer Bekannten die sich getrennt hat eine kleine 2Zi-Wohnung in München mit Mieter übernommen. “die K´s sind ein nettes Ehepaar,. Er Fernsehtechniker und sie Zahnarzthelferin.” Nachdem ich die Wohnung bezahlt hatte, habe ich angerufen. Die erste Frage von der Frau “müssen wir jetzt ausziehen?” Ich habe einen Brief geschrieben, in dem ich meine Kontonummer angab und versicherte keinen Eigenbedarf anzumelden und auch die nächsten fünf Jahre keine Mieterhöhung zu machen. Den Brief habe ich vorbeigebracht und neben meiner Telefonnummer, wenn was sein sollte, auch noch glückliche Mieter hinterlassen. Sie sind um die 40 und erst seit drei Jahren verheiratet. Radeln an der Isar und gehen zu Fuss zu Konzerten in die Olympiahalle.
Nach einiger Zeit kommt die Miete nicht. Einen Monat später auch nicht. Ich rufe an und der Herr K. erzählt, dass vor fünf Monaten seine Frau verunglückt ist. Er ist voller Trauer und kann zur Zeit nicht arbeiten. Die Miete bezahlt dann das Wohnungsamt. Nach gut einem Jahr geht das Telefon nicht mehr. Als ich dann mal wieder in der Weltstadt mit Herz bin, besuche ich meinen Mieter. Er und die Wohnung sehen furchtbar aus. Überall liegen Bier und Schnapsflaschen herum. Es riecht nach kalten und warmen Tabakrauch. Das Bettzeug liegt auf dem Boden und das Spanntuch und die Matraze sind durchgewetzt und voller Löcher. Im Bett riecht er immer noch seine Frau. Das Bad rundet den Gesamteindruck ab.
Ich rufe beim Wohnungsamt an und frage, ob und wie man dem Herrn K. helfen könne. Eine resolute Dame sagt, dass die Wohnung erst kürzlich kontrolliert wurde und sie sei nicht vermüllt.Sie ist schlimmeres gewohnt. Um seine Psyche soll er sich gefälligst selbst kümmern.
Alle zwei Monate schau ich bei meinem Mieter vorbei und weil er inzwischen auf Dosenbier vom Aldi umgestellt hat, bringe ich ihm einen Kasten Augustiner mit.
Er ist immer freundlich und höflich und auch nie betrunken.
Einmal frage ich ihn nach seinen Freunden oder Bekannten und mit wem er sich sonst so unterhält. Dann sagt er, dass er zuletzt mit mir gesprochen hat. -.Aber ich war doch jetzt acht Wochen nicht da? – Dann habe ich demnach acht Wochen nicht gesprochen. – Aber sie kaufen doch ein? – Man legt sein Zeug aufs Band, bezahlt und geht. Mir war ganz schwindlig als er mir das sagte. Dabei haben sie im Haus viel über ihn gesprochen. Nicht direkt über ihn, aber über seinen Geruch. Die Nachbarn auf der Etage und die Arztpraxis im Erdgeschoss.
An einem Sonntag ´früh fahr´ ich nach Österreich. Als ich aus dem Haus gehe sitzt eine Krähe auf dem Verkehrsschild vor meinem Haus. Nachdem ich unter ihr durchgehe, fliegt sie nicht weg. Ich denke mir – ganz schön mutig der Vogel. Er dreht sich sogar noch um und schaut mir nach. Als ich mit dem Auto zurückkomme, sitzt er immer noch da. Es ist so auffällig, dass ich vor ihm stehenbleibe. Wir schauen uns bestimmt eine Minute lang an, dann fliegt er weg.
Am Mittwoch komme ich zurück und mein Anrufbeantworter ist voller Mitmenschen, Nachbarn, Kollegen, Hausverwaltung, Patienten, Trambahnfahrer, für meinen Sohn, für meine Tochter, darf man einen Hund haben, die die Wohnung mieten wollen.
Der Herr K. ist gestorben. Die Wohnung ist versiegelt. Von der Polizei erfahre ich, dass er mindestens drei Tage (Sonntag bis Dienstag?) in der Wohnung im Flur gelegen hat. Vermutlich wollte er noch heraus, denn die Türe war 20cm offen gestanden. Der hat drei Tage hinter der offenen Türe gelegen, bis sich einer bei ihm beschweren wollte, weil das Treppenhaus wie ein Aschenbecher stinkt.
Ein Anwalt meldet sich und erklärt, ich soll ihm meine Forderung mitteilen, denn es seien Vermögenswerte gefunden worden. Eine 3Liter Asbachflasche mit Ein- und Zweipfennigstücken 78,16 DM. Letztlich aber doch ein paar Tausender. Die Hauptforderung kommt vom Wohnungs- und Sozialamt. Meinen Anteil kann er gleich auf die Obdachlosenstiftung vom Moshammer Rudi überweisen.
Ich wollte gerne zur Beerdigung von Herrn K. gehen, aber niemand konnte mir sagen, wann und wo die ist. So habe ich täglich die SüddeutscheZeitung durchforstet. Da gibt es eine Rubrik die man vielleicht Armenbestattung nennen könnte. Es sollte dauern. Vielleicht dürfen sich noch ein paar Medizinstudenten an ihm ausprobieren. Nach gut vier Monaten stand es endlich da. Herr K. 87 um 9 Uhr. Nichtmal sein richtiges Alter hat man ihm zuletzt gelassen. Er war 43 als er starb.
Zur Erinnerung an einen Vergessenen.
@Odysseus: Danke
Es hängt aber auch viel an seinem eigenem Wesen was für ein Nachbar ich bin. Bin ich eher der introvertierte Typ dann grüße ich eventuell freundlich im Flur aber sonst habe ich keinen Kontakt zu meinen Mitmenschen (vielleicht will ich es auch gar nicht).
Vielleicht bin ich aber auch der extrovertierte und erzähle jedem meine Lebensgeschichte auf Gedeih und Verderb.
Ein schöner und nachdenklicher Artikel. Etwas komisch ist nur das Du den Vornamen nicht kanntest. Ich weiß jetzt nicht wieviele Mieter ihr im Haus seit.
Wir haben ein gutes Verhältnis zu unseren Nachbarn (bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger). Unsere Nachbarin gegenüber ist 70, ich werde 40. Sie ist wie eine Mutter/Oma zu uns. Bringt immer Essen rüber, auch wenn wir das nicht immer wollen ;).
Meine Freundin fliegt mit ihr Ende Mai sogar für eine Woche im Urlaub. Die beiden verstehen sich super auch wenn 33 Jahre dazwischen liegen.
Ist leider nicht bei jedem so.
Langer Rede, kurzer Sinn. Ich finde du hast alles richtig gemacht. Beide Daumen hoch dafür
Schrecklich, das alles!
Was könnte man tun, um diese einsamen Tode zu verhindern? Da immer mehr Menschen alleine leben und viele offenbar keine regelmäßigen Kontakte pflegen, wäre evtl. eine technische Lösung mit Notsignal hilfreich. So etwas wird meines Wissens von privaten Diensten für Hochbetagte angeboten, aber es trifft ja auch jüngere Menschen: plötzlicher Herzinfarkt oder ein Hirnschlag – und nicht immer ist man dann gleich tot.
Was denkt Ihr? Gibt es da was?`Wie könnte so ein Meldesystem funktionieren?
Es gibt solche Systeme schon sehr lange. Und wie immer kann Technik keine sozialen Probleme lösen. Dafür ist sie schlicht nicht da. Technik kann nur technische Probleme lösen.
Wer also z.B. im Alter in eine betreute Wohngruppe zieht, nach dem schaut täglich das Pflegepersonal und dieses ist auch zeitnah da, wenn der Melder auslöst. Wird der Melder nicht zeitnah zurückgesetzt, schaltet die Anlage direkt zur Feuerwehr durch. Das ist halt ein technischer Ansatz alte gebrechliche Leute nicht alle 5 Minuten in ihrer Privatsphäre stören zu müssen und trotzdem zeitnah mitzubekommen wenn sie ein Missgeschick hatten.
Das hilft natürlich dem trauernden verwahrlosenden Mitdreißiger nichts, der langsam jeden Kontakt zur Außenwelt abbricht und so ein Gerät weder hat noch will.
Seit nach einem Einbruch in der Nachbarschaft ein Polizist zu uns gesagt hat: “Nachbarn, seid wachsam – ihr müsst aufeinander Acht geben”….bin ich wirklich aufmerksamer geworden.
Wir wohnen inzwischen sehr abgelegen und da notiere ich mir schon mal eine Autonummer, wenn fremde Kennzeichen langsam durch die Straße patroullieren und die Anwesen beäugen.
Wir wohnen zwar auf dem Dorf, treffen die Leute aus der Straße aber auch nicht oft. Aber wenn der Fensterladen unseres 85jährigen Nachbarn nicht wie gewöhnlich um ca. 7.30 Uhr offen, sondern um neun noch geschlossen ist, werde ich unruhig und werfe den Tag über so lange Blicke rüber, bis sich was bewegt.
Er war gerührt, als er erfuhr, dass mir das auffällt.
Vor Kurzem hatte er wohl nachts ein Licht angelassen. Ich sah für eine Minute rüber …ist es ein Licht …oder seh ich Flammen?
Den Gehstock, den ich ihm geschenkt habe, will er trotz diverser Stürze (noch) nicht nutzen. Er sei schließlich noch kein alter Mann!
Wenn eine ältere Bekannte telefonisch nicht mehr erreichbar ist, frag ich schon mal bei den Kindern nach. Gott lob, bisher gab es immer Entwarnung…
Und wenn ich in Socken auf dem Badewannenrand stehe um mich am Schrank hochzuhangeln, ermahne ich mich selbst und hol die Leiter, weil jedes Alter straucheln kann.
In mir steckt ein kleiner Wachhund. Und ich hoffe die anderen achten auch etwas auf mich…..aus der Ferne.
Ein Mann stirbt in seiner Wohnung, alleine. Seine Nachbarn waren nicht mit ihm befreundet, aber man pflegte einen höflichen Umgang. Irgendwann fällt auf, daß der Mann lange nicht mehr gesehen wurde.
Jetzt fängt der interessante Teil an: warum fühlt man sich plötzlich zuständig?
Wir wohnen nicht mehr in Dorfgemeinschaften und Großfamilien. Wenn es die doch noch gibt, leben sie auch zumeist nicht mehr zusammen unter einem Dach. Das ist ein Resultat unserer gesellschaftlichen Entwicklung. Braucht man nicht zu bewerten.
Also, es fällt auf, man denkt darüber nach, geht vielleicht hoch und klopft, geht dann wieder runter und ruft dann früher oder später die zuständigen Autoritäten an. Die kommen vorbei, der Mensch ist tot.
Jetzt macht man sich Vorwürfe, analysiert sein Verhalten. Vielleicht möchte man sich gerne als den symphatischen, sich kümmernden Nachbarn sehen, ein Dorfbewohner, der jeden noch beim (Vor-)Namen nennen kann. Aber man ist es nicht. Genauso, wie ich gegen Sklaverei bin und das dann via iPhone twittere. Oder du solidarisierst dich mit den Flüchtlingen, solange sie nicht in der Schule der eigenen Kinder auftauchen.
So sind wir als Menschen halt. Und dann sterben wir. Auch alleine in der Wohnung.