In den letzten Monaten rückt die Kommunikations- oder besser: Einschüchterungskultur im Netz wieder verstärkt in den Vordergrund. Das ist gut, denn dieses Thema wird weiterhin im netzpolitischen Diskurs nahezu vollständig ignoriert oder beiläufig als Randnotiz erwähnt. Dabei leiden viele Menschen psychisch jeden Tag unter Attacken aus dem Netz. Diese Angriffe greifen trotz ihrer Virtualität ins reale Leben. Sie sind echt. Es wird Zeit, dass wir einer Diskussion um diese Problematik mehr Raum geben. Wir müssen Opfern zuhören und ihre Geschichten ernst nehmen. Wir dürfen nicht den Fehler machen, dies als kleines Übel im Netz abzutun. Es ist der Alltag von vielen Menschen – insbesondere Frauen – mit Worten attackiert zu werden. Tagaus, tagein. Es handelt sich hier nicht um Einzelfälle, sondern ein gesellschaftliches Problem, dass sich im Netz abspielt.
In diesem Zug werden wir auch über die Schattenseiten von Anonymisierungstechnologien reden müssen. Dienste wie Tor und Cypherpunk werden als wichtiges Gut für eine demokratische Gesellschaft hochgehalten. Dass viele Menschen in diesen Gesellschaften aber unter Missbrauch der Dienste leiden und in Angst leben, wird als Kollateralschaden kommentarlos akzeptiert. Es geht hier nicht darum, diese Dienste per se zu verteufeln. Sie erfüllen einen wichtigen Zweck. Aber sie sind auch kein Allheilmittel, dessen schädigende Folgen ignoriert werden dürfen. Das Gerücht, Firefox würde bald Tor in den Browser integrieren, lässt böses für die Zukunft erahnen. What could possibly go wrong? Doch dazu an anderer Stelle mehr.
Zum Einstieg in das Thema Hating und Einschüchterungen gibt es folgende aktuelle Quellen:
Auf dem XOXO Festival 2014 spricht Anita Sarkeesian (Feminist Frequency) über ihre Erfahrungen mit Hatern. Sie unternimmt eine Klassifikation der verschiedenen Angriffstypen auf ihre Person von der Verschwörungstheorie über Fake-Identäten bis zu Mord- und Vergewaltigungsdrohungen
Im Buch »An jedem einzelnen Tag: Mein Leben mit einem Stalker
Gerade erst hat sich @dasnuf in »Gegen die Hilflosigkeit« dem Thema Hater gewidmet und stellt noch einmal fest: Das Wort “Troll” ist hier falsch. Sie versucht Verhaltenshinweise zu geben und fragt, wie wir zukünftig mit dem Thema umgehen können.
Die Software-Entwicklerin Adria Richards erzählt in »Telling My Troll Story Because Kathy Sierra Left Twitter« wie sie sich von einer Offenheit im Netz immer weiter zurückziehen musste, da sie zunehmend rassistischen/sexistischen Attacken und Mord- und Vergewaltigungsdrohungen ausgesetzt ist.
Und weil es leider so gut zum Thema passt: Linux-“Erfinder” Linus Torvalds wurde auf einer Konferenz auf einen seiner Mailinglisten-Kommentare angesprochen. Die Frage lautete:
“Hi. I’m sorry to ask this question, almost, but it’s something that I think is a little bit important; how do you think it effects the culture of a community of a project, when the leader is on that project’s public mailing list, telling people in response to patch reviews that they should be retroactively aborted, and maybe that you’re surprised that they’re still alive, because they should have starved to death when they were children, because they were too stupid to find a tit to suck on?”
Den Rest – und damit einen großen Teil des Internet-Problems – sieht man in der Antwort von Torvalds, die Fassungslosigkeit ob der Uneinsichtigkeit auslöst:
Jürgen Geuter fordert ein »Recht auf digitale Unversehrtheit«. Das ist ein guter Anfang. Meine ganz persönliche Meinung zu dem Thema: Ich halte Kommunikationskultur und den Umgang mit Hatern, Mord- und Vergewaltigungsdrohungen derzeit für wichtiger als hitzige Debatten um die genaue Defintion von Netzneutralität und die Frage, ob man jetzt straffrei einen Torrent runterladen darf oder nicht. Und ja, auch wichtiger weil lebensnäher als die Frage, ob die NSA unsere E-Mails liest. Denn die verschickt keine Vergewaltigungsdrohungen.
p.s.: Dass man sehr unterschiedlicher Meinung sein und trotzdem zivilisiert diskutieren kann, habe ich zusammen mit Constanze Kurz in der Folge 13 von Leitmotiv gezeigt.
Ein wichtiges Thema, ja. Eines, über das dringend zu reden ist: Ja. “Statt abstrakter Netzpolitik”, “wichtiger weil lebensnäher als die Frage, ob die NSA unsere E-Mails liest”? Dazu fällt mir nur Antje Schrupps Motto ein: “Das Gegenteil ist genau so falsch”.
“Lasst uns endlich über Mobbing statt über Kernkraft reden.”: Es gibt Themen, die auf ganz unterschiedlichen Ebenen wichtig und dringlich sind. Die Kapazitäten sind da, um beide Debatten zu führen. Welchen Vorteil hat es, sie gegeneinander auszuspielen?
Ich sehe gerade in der deutschen Netzaktivistenszene bei diesem Themenkomplex Null Bewegung, was mich traurig macht und mich letztendlich dazu getrieben hat, mein Aktivitäten in andere Kontexte zu verlagern.
Leider liegt es meines Erachtens nicht an mangelndem Problembewusstsein, sondern an Prioritäten. Da ist falsch verstandene “Meinungsfreiheit” wichtiger als digitale Unversehrtheit. Ich erinnere mich da zum Beispiel daran das mir von Verantwortlichen direkt gesagt wurde, man müsse nunmal akzeptieren dass eine hier nicht weiter zu nennendende netzaktivistische Veranstaltung kein “sicherer Ort für Frauen” ist.
Solange sich diese Prioritäten nicht ändern, bin ich ehrlich gesagt mit meinem Latein am Ende. Ich will nicht sagen es ist ein quixotischer Kampf, den man da führt, aber ich bin mir langsam wirklich unsicher ob die Kultur auf der die Szene fußt überhaupt reformierbar ist.
Sehr schöner Text! Es ist beunruhigend, dass Menschen virtuelle Belästigungen/Drohungen als etwas geringeres, nicht so wichtiges Thema sehen als würde dies auf der Straße geschehen (und der Mist deswegen weiter geht und von der Politik offensichtlich nicht behandelt wird – das Internet ist denen ja eben doch zu neu).
Die Logik von Mr Linus bringt in mir die Kotze hoch. “Respekt muss sich verdient werden”. Mal abgesehen davon, ob man das so stehen lassen kann, frage ich mich, was ihn dazu berechtigt, Leute mit Disrespekt (gibt es da vielleicht ein besseres Wort im Deutschen?) zu behandeln. Falls jemand – seiner Meinung nach – seinen Respekt nicht verdient hat, kann er dann nicht von einem “Null-Level” ausgehen und einfach nicht mehr mit dem Menschen zusammenarbeiten? Anscheinend nicht. Und eine verkorkste Familie, die er in der Diskussion selbst anführt, ist mitnichten eine Entschuldigung (obwohl er sich nicht mal entschuldigt hat…).
Nee, die Bekanntmachung des Topos “Einschüchterungskultur” ist nicht wichtiger als der Topos “Überwachung”. Ersteres hat mehr öffentliche Aufmerksamkeit und Bewusstmachung nötig als bisher, das seh ich auch so, aber nicht mehr als “Überwachung”. Vieleicht weiss der Autor aber auch mehr, als ick zB, über die effektive Bandbreite des öffentlichen Sektors und versucht da einfach nur Platz zu machen für das Thema des Artikels? So gesehen…