Vor einigen Tagen habe ich ein paar Gedanken zum Problem mit der Einschüchterungskultur im Netz notiert. Beiläufig habe ich dort darauf hingewiesen, dass wir auch über die Auswirkungen von Anonymisierungsdiensten wie Tor diskutieren müssen. Wie leider zu erwarten, wurde diese Einladung zu einem Gespräch zeitnah prominent abgelehnt. Es stellt sich die Frage, ob man überhaupt Anonymisierungsdienste kritisieren darf. Ich sage: ja. Und wir müssen es tun.
Prominenteste Pauschal-Ablehnung einer kritischen Besprechung von Tor kam von Frank Rieger:
Tor is also Schuld daran, daß das Internet nun auch die Idioten und Soziopathen umfasst? Nicht direkt ein satisfaktionsfähiges Argument…
— Frank Rieger (@frank_rieger) October 9, 2014
Rieger ist nicht nur Sprecher des Chaos Computer Clubs, FAZ- und Buchautor, sondern war (oder ist?) auch im Vorstand des Tor-Projekts. Er ist also Experte auf dem Gebiet. Auch wenn sein Twitter-Account nicht offiziellen Charakter hat, darf man diese Aussage wohl für repräsentativ für einen großen Bereich der IT-Security-Szene halten. Doch widmen wir uns dem Inhalt des Arguments: Rieger unterstreicht, dass eine falsche/unethische Nutzung von Tor nicht dem Tool Tor anzulasten ist. Dieses Argument scheint zunächst zu überzeugen: Schuld an Taten sind Täter. Darauf habe ich auch schon im Zuge der Foto-„Leaks“ hingewiesen.
Doch man muss hier differenzieren. Die „Dual-Use“-Debatte ist etwas komplexer. Vergleichen wir es mit einer Bewertung von Messern: Es gibt sicher eine statistisch relevante Anzahl von durch Küchenmesser absichtlich verletzten Personen. Ein Küchenmesser kann also als Waffe eingesetzt werden. Sollten Küchenmesser oder deren Hersteller dafür kritisiert werden? Gesellschaftlicher Konsens ist wohl: Nein. Nehmen wir jedoch das Arsenal an Dingen, die zur Selbstverteidigung erworben werden können: Gaspistolen, Messer, usw. Darf man diese kritisieren? Hier scheiden sich die Gemüter. Einige betonen auch hier, dass es immer auf den Nutzenden ankommt. Andere sehen bereits in der Bereitstellung eine erhöhte Gefahrensitation. Das spricht dem vertretbaren Einsatz nicht die Berechtigung ab. Und doch muss darüber gesprochen werden, was es für gesellschaftliche Auswirkungen hat, dass man im Laden um die Ecke solches Equipment erwerben kann. Ist Tor in diesem Sinn nun ein Küchenmesser oder eine Waffe zur Selbstverteidigung? Wer unternimmt en passant diese Zuordnung? Diese Entscheidung ist bei so einem jungen Tool noch nicht getroffen, auch wenn das behauptet wird.
Die pauschale Ablehnung einer Diskussion um Programme wie Tor legt implizit nah, Technik sei frei von einem Bias. Technik ist nach dieser Lesart nur noch eine bedeutungslose Ansammlung von Bits, der erst durch jeden einzelnen individuellen Nutzungsvorgang Bedeutung zukommt. Das könnte man so Technik-liberal verargumentieren, wenn zugleich nicht andere Technologien durchaus pauschal verurteilt werden: Google Glass, Big Data, personalisierte Suchmaschinen, Tracking-Cookies, um nur einige zu nennen. Diese werden häufig vorab negativ dargestellt. Ihnen wird eine inhärent unethische Nutzung unterstellt. Dabei kann auch bei diesen Technologien argumentiert werden, es sei nicht die Technologie das Problem, sondern der einzelne Nutzer. Es gibt also eine nie so offen zur Schau gestellte Unterscheidung in „gute Technologie“ (hier: Anonymisierung) und “schlechte Technologie” (z.B. Google Glass). Bei guter Technologie ist eine Fehl-Nutzung das Problem schlechter Menschen, bei schlechter Technologie ist es Medien-inhärent. Das ist äußerst inkohärent argumentiert.
[Textstelle entfernt, da zitierter Autor nach Rücksprache bekräftige, dass der zugrundeliegende Tweet nicht wie hier dargestellt intendiert war.]
Es zeigt sich, dass die Ablehnung einer Technikkritik auf argumentativ wackeligen Füßen steht. Sie widerspricht sich selbst. Jedes Tool muss aushalten, auf schädliche Tendenzen hin untersucht zu werden. Im Fall von Tor ist das die Ermöglichung anonymer Hasskommentare. Medientheoretisch ließe sich gar die Frage stellen, ob anonyme Kommunikation nicht strukturell dazu neigt, diese Form anzunehmen. McLuhan fasst zusammen “The Medium is the Message”. Und die Frage ist, was die abstrakte Nachricht des Mediums “anonyme Kommunikation” ist. Vielleicht ist es auch eine andere als das Nahelegen von Hasskommentaren. Die Diskussion ist offen.
Vorangeschritten ist sie schon bei größeren freien Projekten. Wikipedia nennt in “Editing with Tor” Vandalismus einen der Hauptgründe, warum Artikel oft nicht über den Anonymisierungsdient editierbar (aber lesbar) sind. Auch das in der freien Softwareszene bekannte Chat-Netzwerk “Freenode” widmet dem Umgang mit Tor-Nutzern und Sperrmöglichkeiten einen eigenen Bereich. Diese Entscheidungen haben sicher Diskussionen im Vorlauf gehabt. Die selben Diskussionen sollten auch im größeren Kontext möglich sein. Kontrovers sind sie allemal.
Technikkritik darf nicht da aufhören, wo es für die Hackercommunity weh tut. Gerade da muss sie fortgesetzt werden, damit man vor sich selbst und der Öffentlichkeit glaubhaft dasteht. Und das Ergebnis soll nicht zwangsläufig heißen „Tor ist schlecht“. Es kann aber heißen: Wir müssen überlegen, wie wir mit unerwünschten Folgen von Tor umgehen und Personen helfen, die darunter leiden. Mehr wünsche ich mir nicht.
p.s.: Ich bin gespannt, was Frank Rieger noch zu dem Thema bloggen wird:
@leitmedium Da war kein Platz mehr in den Tweet! Aber ich werd mal was bloggen.
— Frank Rieger (@frank_rieger) October 9, 2014
” Im Fall von Tor ist das die Ermöglichung anonymer Hasskommentare.”
oh, bei weitem nicht nur! Die “hidden Services” bieten auch KiPo, Auftragskiller, Waffen, falsche Papiere, Kreditkartendaten, gehackte Accounts und Drogen an – siehe
https://www.privacy-handbuch.de/handbuch_24f.htm
http://bestandserfassung.blogspot.de/2013/02/deepweb-und-hidden-services-mit-tor.html
Wenn das Gerücht stimmte, dass “ein großer Browserhersteller” Tor in den Browser integrieren will, kommt das einer Bewaffnung der Massen gleich und man mag sich gar nicht ausmalen, was für Folgen es hat, wenn alle Hater und Nachbarschafts-Streithähne simplen Zugriff auf all diese Dinge haben!
Man kann auf 4chan nicht mittels tor posten. Viel mehr muß man eigentlich nicht sagen, um zu zeigen, dass die tor-Debatte eine im Vergleich völlig unbedeutende Nebendebatte ist. Hass im Netz ist ein Problem, sogar das zentrale Problem, das debattenwürdig ist.
Davon abgesehen entnehme ich obigem Vortrag nicht mehr als ein “man muss doch auch mal tor kritisieren dürfen!”. Konkrete Wirkmechanismen, was ausgerechnet an tor nun das Problem ist, konkrete daraus abgeleitete Forderungen, fehlen völlig. Die auf die Spitze getriebene Konsequenz aus der Kritik von Anonymisierungsdiensten, nämlich die Abwesenheit von Anonymität, wird als “das war nicht das Thema” sogar abgelehnt.
Das ist am Thema vorbei, intellektuell inkonsequent, und lenkt, ich muß es noch mal sagen, vom eigentlichen Problem “Hass im Netz” ab.
Den Umgang mit anonymen Kommentaren diskutieren wir doch in der Trolldebatte schon ausreichend.
Und ja jedes Medium, jede Technologie enthält per se bestimmte Werte. Aber es ist eben doch ein großer Unterschied ob diese von Google oder von einer Community implementiert werden. Schließlich steckt hinter einem Körpersensor von Google immernoch die Datenkrake, während hinter dem Tor-Projekt der Wunsch nach einem freien Netz steht.
Daher wünsche ich mir aus ideologischen Gründen keine Plädoyers gegen Tor. Aber du hast ja recht. Man kann ja mal drüber reden.
Ich vermute ebenfalls, dass es beim Aufmachen dieser Debatte hier nicht wirklich um Hasskommentare oder andere schlimme Dinge im Tor-Netzwerk geht.
Auch der allgemeine Verweis auf “Dual-Use” ist oberflächlich; die Intention dazu aber wahrscheinlich ideologisch (gegen Anonymität) motiviert. Das “Dual-Use”-Phänomen könnte so ziemlich an allen neuen technologischen Entwicklungen umrissen werden. Warum jetzt ausgerechnet “Anonymisierungsdienste” dafür herhalten müssen, erschließt sich mir nicht.
Wichtig zu bemerken ist aber, dass nicht die eigentlichen Ursachen, nämlich die gesellschaftlichen Hintergründe (soziale Vereinzelung, Aufmerksamkeitsgesellschaft, Leistungsdruck durch Vergleichbarkeit usw.) im Zentrum des Beitrages stehen, sondern eine angeblich falsche “Technikkritik” der sogenannten “Hackercommunity” (zu der sich der Autor offenbar auch zählt). Die angekündigte “Einladung zu einem Gespräch” ist auch nicht ehrlich gemeint, wenn es mit dem Herausstellen einiger Tweets in einer Zeigefinger-Rhetorik geschieht.
Wenn es wirklich um Fragen der Ethik gehen sollte, wären eigentlich konstruktive Vorschläge für eine neue Hackerethik wichtig. Da diese fehlen bleibt für mich nur ein Fazit: Es geht nicht um inhaltliche Auseinandersetzung sondern vordergründig um Polemik. (Mal sehen ob dieser Kommentar auch wieder gelöscht wird, weil er die Kommunikationsstrategie des Autors kritisiert.)
Ich würde Deine Kommentare nicht so oft löschen, wenn sie nicht in der Regel darauf hinauslaufen, nicht über den Text sondern ad hominem über mich und meine verschwörersischen und unehrlichen Intentionen zu reden. Ich freue mich über eine Debatte und finde Deinen Hinweis auf die Hacker-Ethik wichtig. Interessanterweise hat Linus auch auf die Hackerethik hingewiesen aber eher im Sinne von “lies sie mal” und nicht von “wir brauchen eine aktualisierte”. Ich glaube, Jürgen Geuter hat auch schon öfters zu dem Thema gearbeitet.
Das Herausstellen von Tweets, die auf meine Texte antworten und von Personen stammen, die öffentlich präsent sind, halte ich für legitim. Ich muss auch aushalten, dass meine Aussagen öffentlich bewertet und kritisiert werden. Und das werden sie.
Dass es ein großer Unterschied sei, dass hinter Tor der Wunsch nach einem freien Netz steht, ist ja wohl mal großer (und gefährlicher) Quatsch. Óinter jeder großen Scheiße, die von der Menschheit bisher angestellt wurde, steckte meistens irgendwo auch eine hehre Motivation.
“Gut ist das Gegenteil von gut gemeint” ist nicht nur ein Spruch. Genau deshalb muss man immer auch das Resultat kritisieren können, nicht nur die Motivation.
Bitte auf die Sprache achten. Hier soll bitte sachlich diskutiert werden. Ansonsten danke für den Kommentar.
Dass hinter jeder großen _Idee_ eine hehre Motivation steckt habe ich in meinem Kommentar ja gerade bezweifelt. Bei Technologien eines Konzerns muss man eben immer kommerzielles Interesse vermuten. Bei Google dementsprechend Datensammelwut.
Dass ich nicht gerne Kritik am Torprojekt lese habe ich auch bereits als ideologisch gekennzeichnet. Liegt halt eben an der momentanen netzpolitischen Situation. Du weißt schon. Das Internet ist kaputt. Lasst es uns erstmal wieder zum laufen kriegen, bevor wir Becherhalter installieren.
Und ich habe explizit nicht von großen _Ideen_ gesprochen, sondern von Dingen, die ganz, ganz, ganz böse falsch laufen. Schau Dir doch mal die ganzen Katastrophen an, die so verbrochen wurden. Die werden doch nicht deshalb so groß, weil da viele Zyniker am Weltuntergang basteln, sondern weil viele Leute da eine hehre Motivation haben, wie krude auch immer.
Und wenn dann nicht alle mal irgendwann einen Schritt zurück treten und schauen, ob das, was der Effekt des ganzen ist auch noch mit der ursprünglichen Motivation übereinstimmt, dann kann sowas böse außer Kontrolle geraten, weil es nämlich keine “gute” Technik gibt.
Insofern habe ich mit “bösen” kommerziellen Anbietern auch eher weniger Probleme, als mit Dogmatikern, die sind nämlich viel einfacher zu kontrollieren, man kann sie immer am Geld packen. Klappt. Tausendfach erprobt. “Freiheitskämpfer”, ugh, das ist ‘ne andere Sache. Die Jungs auf 4chan sind größtenteils voll davon überzeugt, dass sie Freiheitskämpfer für ‘ne ganz tolle Sache sind, bin ich überzeugt von. Packen kannst Du die bei nix, die können Schaden anrichten so lange sie wollen.
Das Internet ist gerade auch wegen der übertriebenen Dogmatik all derjenigen kaputt, die es “frei” haben wollen aber dabei mal eben ganz locker über alle Kollateralschäden hinwegsehen. Die haben genauso einen großen Anteil daran, dass es “kaputt” ist, wie die bösen Googles dieser Welt, sie reparieren nämlich gar nix und haben nicht mal ein realistisches Angebot an die Mehrheit, das dem gesellschaftlichen Wertekonsens entspricht.
Na gut klar, du hast recht: Es gibt keine bösen Menschen, nur böse Taten.
Und daher bin ich auch der Meinung, dass Anonymität eben vorallem auch gutes Verhalten begünstigen kann. Die Sichtweise hängt wohl vom jeweiligen Menschenbild ab.
Jedenfalls müssen wir uns dem Kontrollverlust ohnehin stellen. Ob mit massiver Anonymität oder ohne, die Effekte auf die Gesellschaft sind enorm.
Darf man Anonymisierungsdienste kritisieren?
Selbstverständlich! Aber das ist nicht eigentliche Frage.
Eigentlich geht doch darum, ob es ein Recht auf Anonymität im öffentlichen Raum gibt, der das Netz ja ist. Wenn ja, dann müssten auch aktive Mittel zur Durchsetzung dieses Rechts (Tor), legitim sein.
Oder der Wunsch Hater, Störer etc. leichter kenntlich machen zu können wiegt schwerer?
beim vergleich von TOR mit sachen wie einer klarnamenpflicht müsste der umstand berücksichtigt werden, dass ersterem ein emanzipatives potential gegenüber dem staat innewohnt, zweiterem eher nicht.
Meine versprochene Replik findet sich hier: http://frank.geekheim.de/?p=2458
Gruss & Dank,
Frank Rieger