In meinen Artikeln über Einschüchterungskultur und Anonymisierungstechnologien habe ich bereits angedeutet, für wie wichtig ich einen breiteren Diskurs über die Auswirkungen von Anonymisierung im Netz halte. Ziel dieser Debatte soll es nicht sein, diese Dienste zu kriminalisieren oder zu verbieten, da sie relevante Anwendungsfelder haben. Die Frage jedoch ist, wie man eine Lösung für Einschüchterungen, Belästigungen, Mord- und Vergewaltigungsdrohungen über diese Dienste findet. Einen Vorschlag – ein “Recht” auf Schutz vor Anonymität” – möchte ich heute machen.
Die Meinungen gehen auseinander, ob das Problem Belästigungen durch Anonymisierungsdienste nun relevant ist, oder nur Einzelfälle skandalisiert werden. Was fehlt, ist eine wissenschaftliche Überprüfung der These, dass ein relevanter Anteil dieser Inhalte über Anonymisierungsdienste gefördert wird. So lange diese belastbaren Daten fehlen, kann man nur mutmaßen, ob es sich um ein Problem handelt. Wenn man die Texte der letzten Monate über Hatespeech und Stalking liest, kann man zu dem Schluss kommen, dass Anonymisierung durchaus eine Rolle spielt. Zudem stellt sich auch die Frage, ab wie vielen Einzelfällen von in ihrer Lebensführung eingeschränkten Personen man von relevant sprechen sollte.
Wie also umgehen mit anonymer Hatespeech? Vielfach wird vorgeschlagen, die Gesellschaft dafür zu sensibilisieren. Das ist in der Tat wichtig, damit Opfer ernst genommen werden. Und auch Anonymität ist in bestimmten Bereichen wichtig (z.B. ungefilterte Kommunikation in Diktaturen oder auch hierzulande anonyme Kontaktaufnahme mit Beratungsstellen). Doch genauso wichtig ist es, Personen aktiv davor zu schützen, dauerhaft anonym belästigt zu werden. Es kann nicht nur darum gehen, Opfern gut zuzureden und diese Einschnitte in ihr Leben aushalten zu lassen. Es geht darum, negative Auswirkungen von anonymer Kommunikation einzugrenzen.
Im Begriff “Privacy” prägenden Artikel “The Right to Privacy” von 1890 schreiben der spätere Richter Louis Brandeis und der Anwalt Samuel D. Warren vom “right to be let alone” als Recht, in Ruhe gelassen zu werden. Dieses bezog sich zwar auf einen anderen Kontext, doch kann es auch neu interpretiert werden als das Recht auf die Entscheidungsfreiheit, wer mit einem kommunizieren kann. Michael Seemann prägte im deutschsprachigen Raum das Konzept der “Filtersouveränität“. Kurz gesagt bedeutet es für das Individuum: Ich als Rezipient muss entscheiden können, welche Informationen mich erreichen – und welche nicht.
Diese Filtersouveränität ist es, die Menschen helfen könnte, mit anonymen Belästigungen umzugehen: Wenn einen solche Nachrichten nicht mehr erreichen können, sind sie wirkungslos. Zwar kann man nicht verhindern, dass über einen anonym gesprochen wird, aber man kann verhindern, dass anonyme Nachrichten den Alltag unterbrechen. Das aktuelle Problem ist, dass das Filtern anonymer Nachrichten nicht trivial – aber möglich – ist. Projekte wie Wikipedia, Freenode und selbst 4Chan blockieren oder markieren Tor-Nutzer auf die ein oder andere Art. Diese Möglichkeiten sollten allen Internet-Anwendern zur Verfügung stehen.
Das tun sie in der Regel auch: Für das weit verbreitete Blog-System WordPress gibt es beispielsweise Plugins, die die Nutzung über Tor einschränken oder ganz verhindern. Der privat kostenlos nutzbare CDN-Dienst Cloudflare kann ähnliches für jegliche Art von Webseiten durchsetzen. Doch all dies ist technisch nicht trivial und viele Anwender wissen oft nicht, dass es solche Möglichkeiten gibt. Projekte zur Anonymisierung betonen oft zentral, wie wichtig Anonymität ist, machen Informationen zum Schutz davor aber kaum oder nicht zugänglich. Auf der Webseite des Tor-Projektes ist zum Beispiel verständlicherweise zentral der Artikel “Why Anonymity Matters” verlinkt, einen Artikel mit Hinweisen, wie man seine Webseite vor Missbrauch schützt, findet man aber nicht. Zumindest nicht zeitnah. Passend zeigt sich das Problem beim “Beschwerde”-Text eines Betreibers für anonyme E-Mails. Man erwartet hier eigentlich Hilfe, erfährt jedoch:
“Es gibt viele legitime Gründe, EMails über Remailer zu versenden, besonders wenn die Person an einem Ort lebt/arbeitet, in der die Redefreiheit nicht gewährleistet ist und in der die freie Rede schwerwiegende Konsequenzen haben kann. Durch Verwenden eines Remailers kann die Person an Internet-Diskussionen über sensible Themen teilnehmen, wie z.B. Homosexualität oder politische/religiöse Ansichten, die im Land der Person möglicherweise sogar verboten sind. Remailer sind natürlich nicht dazu gedacht, andere Personen durch EMails zu bedrohen, zu beleidigen oder zu verärgern.
Technisch gesehen ist es nicht möglich, den Absender einer EMail, die über das Mixmaster-Netzwerk versandt wurde, zu ermitteln oder zu kontaktieren – so wie auch die Post keine Person identifizieren kann, die Ihnen einen Brief ohne Absender-Adresse geschickt hat.”
Man wird also faktisch allein gelassen. Dabei ist es durchaus möglich, E-Mails dieser Art zu filtern oder gar automatisch löschen zu lassen. Ein ähnliches Problem beschreibt Mary Scherpe in ihrem gerade erschienenen Buch über die Erfahrungen mit ihrem Stalker: Auf der Suche nach Hilfe wegen der Belästigungen per anonymer SMS stößt sie nur auf lapidare Erklärungstexte und Verweise auf Nutzungsregeln.
Was also sollte folgen? Anonymisierungsdienste sind ein Bestandteil des Netzes. Was bisher großen Projekten wie Wikipedia durch technische Expertise vorbehalten ist, sollte in Zukunft auch einfach für Privatpersonen möglich sein: Das gezielte Blockieren anonymer Kontaktversuche. Dies beginnt bei Blog-Kommentaren, geht über E-Mails und endet bei SMS und Telefonie (und gerade da liegt technisch noch einiges im Argen). Opfer müssen ernst genommen und ihnen so einfache Lösungen wie möglich geboten werden, über ihren Kommunikations-Alltag zu bestimmen. Anbieter von Anonymisierungsdiensten müssen zentral darauf hinweisen, wie man sich vor diesen schützen kann.
Das ist keine paradoxe Erwartung an diese Anbieter, denn das Blockieren passiert bereits – gerade da, wo man es auch bedauern muss. Dass es zum Beispiel indirekt aus China erschwert wird, die Wikipedia anonym und ungefiltert über Tor zu bearbeiten, hat durchaus gesellschaftliche Nachteile. Und auch der Hinweis, dass es keinen 100%igen Schutz vor Anonymität gibt, ist quasi unzulässig, wenn man mit selber Begründung auch nicht Bemühungen um Computersicherheit ablehnt. Letztlich muss die Forderung noch weitergehen und sich auch an Diensteanbieter wie Twitter richten, die Möglichkeiten bereitstellen müssen, sich vor Hatespeech zu schützen. Einige interessante beispielhafte Vorschläge macht Danilo Campos.
Es ist an der Zeit, Schutz vor Hass und Einschüchterungen mit einer Usability-Kampagne zu unterstützen. Es gibt kein Recht, Menschen anonym erreichen zu können. Tor könnte hier mit gutem Beispiel vorangehen und zugleich Kritikern, die Anonymisierungsdienste ganz wegdiskutieren wollen, den Wind aus den Segeln nehmen. Ein gutes Projekt, in dem Hacker weiterhin Anonymität stärken und zugleich Opfer schützen können. Als Beispiel. Für andere.
Drei Klicks auf torproject.org führen direkt zu https://www.torproject.org/docs/faq-abuse.html.en#Bans
Aber ich vergaß, darum geht es ja nicht.
Ich halte Klicks in eine FAQ, in der man auf eine DNS-basierte Lösung und eine Exit-Node-Liste hingewiesen wird, für nicht ausreichend, nein.
Du meinst, das Torprojekt sollte fuer jeden Dienst und jede Software (wordpress, cloudflare, drupal, google, twitter, gmx) eine Anleitung erarbeiten und veroeffentlichen, wie man jeweils Tor-User aussperren kann?
Hast mich ein wenig besänftigt mit diesem Artikel.
Eine Freundin von mir wurde vor kurzem per SMS bedroht und es stellte sich schnell heraus, dass es die neue Freundin ihres Ex ist. Da hilft natürlich nichts. Bei SMS kann man ja nicht einfach jemanden bannen oder muten.
Im Internet ist das (meistens) leichter. Ich denke, dass bei moderierten Kommentaren eine leichte Trolldrossel reichen sollte. Bei anonymen Seiten, wie 4Chan zB nutze ich natürlich selbst die Anonymität und kann mir daher sicher sein, nicht persönlich belästigt zu werden. Wie technische Lösungen für e-Mails aussehen weiß ich nicht, wäre aber diskussionswürdig.
Letzten Endes macht doch immer die Entscheidung des Nutzers für ein Medium den Unterschied. Schließlich beschwert sich auch niemand, dass er auf 4Chan eine Menge Schund liest oder dass unter Spiegelartikeln zu wenig Schimpfwörter und Hitlervergleiche stehen.
„Ich als Rezipient muss entscheiden können, welche Informationen mich erreichen – und welche nicht.“
Wie kann der Rezipient das entscheiden, bevor die Information ihn erreicht?
Eine gute Frage: In diesem Fall durch die Art des Mediums (anonymer Dienst versus nicht anonymer Dienst).