Leitmedium

Es gibt kein analoges Leben im digitalen.

Caspar C. Mierau arbeitet als technischer Berater und denkt als Medienwissenschaftler, der zur Computergeschichte promoviert, über die Geschichte und Gegenwart von Technologie nach. Er schreibt und podcastet an der Schnittstelle von Praxis und Theorie, Technik und Kultur. Notiert kurze Gedanken auf Mastodon. Hat "Leitmedium" ganz offiziell als Künstlername im Ausweis stehen.

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Es gibt keinen Kontrollverlust

10. Februar 2012 by leitmedium

„Kontrollverlust“ beschreibt derzeit ein Gefühl, dass zunehmend die Kontrolle über die eigenen Daten entgleitet. Diese Annahme unterliegt einer Selbsttäuschung: Es hat keinen Zeitpunkt gegeben, an dem es eine Kontrolle über die eigenen Daten gab.

Es lässt sich einwenden, dass immer mehr Daten im Internet landen und öffentlich werden. Diese zunehmende Bewegung kann argumentativ jedoch nicht umgedreht werden, um einen Ursprungspunkt zu beschreiben. Die Frage ist, welcher Wechsel stattgefunden hat. Es ist nicht der Wechsel von der Kontrolle über eigene Daten zum Kontrollverlust über die eigenen Daten. Es ist stattdessen der Vorgang der „Verdatung“ an sich.

Was wir heute an Daten ins Netz fließen sehen, existierte in dieser Form vor kurzem noch nicht: mobile Verkehrsdaten, Chatprotokolle, Fotos mit Metadaten, E-Mail- und Surfprotokolle. Einzelfälle lassen sich problemlos herbeiargumentieren (zum Beispiel EC-Karten und die damit verbundenen Zahlungsprotokolle gibt es nun schon seit Jahrzeiten) und doch ist ein qualitativer Sprung auszumachen, der die Datenverarbeitung der 1980er Jahren als gänzlich unschuldig im Vergleich zur heutigen Mobilität von Daten erscheinen lässt.

Verdatung als steigende Kartographierung sämtlicher in diskret mathematisch beschreibbare Fakten ist der tatsächliche Wandel, der einen Kontrollverlust über Daten nur suggeriert. Möchte man einen zeitlichen Kontrastpunkt zur heute verdateten Welt finden, ist es nicht der Zustand einer kontrollierten Datenwelt, sondern einer ohne Daten. Der Kontrollverlust beruht auf einer retrospektiven Utopie: der Utopie, es hätte eine Zeit gegeben, in der man selbstbestimmt mit seinen Daten agieren konnte. Diese Zeit gab es nicht. Sie ist eine retrospektive Romantisierung.

Filed Under: Datenschutz, Informatik, Internet, Mediengeschichte, Moral, Philosophie, Post Privacy

Trackbacks

  1. Berliner Blogs bei ebuzzing.de – Ranking für Februar 2012 | world wide Brandenburg sagt:
    22. Februar 2012 um 9:25

    […] […]

  2. Digitales Passivrauchen | leitmedium.de sagt:
    9. März 2012 um 14:47

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  3. Berliner Blogs bei ebuzzing.de – Ranking für März 2012 | world wide Brandenburg sagt:
    21. März 2012 um 8:29

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  4. Wie man auf Facebook mit Datenschutz Pseudonyme enttarnten könnte | leitmedium.de sagt:
    27. April 2012 um 17:25

    […] Ich würde diese Tatsache übrigens nicht als Kontrollverlust bezeichnen. […]

  5. “Der Entfesselte Skandal” (Rezension) | leitmedium.de sagt:
    24. Mai 2012 um 11:22

    […] Verhalten und Fehlversuche des Skandalmanagements werden beleuchtet. Auch wenn man sich fragt, ob der „Kontrollverlust“ nicht eine historisch-romantisierende Zuschreibung ist, erfreut die Kombination wissenschaftlicher Thesen und junger Netz-Theorien. Generell gelingt es […]