“Ohne Netz” umreißt treffend eine aktuelle Literaturgattung: Die Netzaussteiger schreiben. Das ist zunächst wenig betörend. Wenn auch der letzte Journalist sein eigenes Experiment macht und Tage, Wochen oder Monate ohne Internet-Zugang auskommt und darüber seitenweise berichtet, kann man davon fasziniert sein, aber auch einfach gelangweilt. Und so hatte Alex Rühles unlängst erschienenes Buch “Ohne Netz: Mein halbes Jahr offline
Alex Rühle, Feuilleton-Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung, wagt aus dem Alltagsstress heraus das Experiment, eine Weile auf das Internet zu verzichten. Diese Weile ist bei Rühle überdurchschnittlich lang: Immerhin ein halbes Jahr möchte er ganz auf Internet, E-Mail und Blackberry verzichten. Für einen Journalist im Redaktions-Alltag eine zugegeben schwierige Aufgabe. Und so lesen sich die ersten Seiten wie ein Selbsthilfetagebuch eines Blackberry-Geschädigten, das nur bedingt Mitleid erzeugt. Warum muss er ein Buch über seinen kalten Entzug von Spiegel Online schreiben, nur weil er es nicht schafft, abends sein Mobiltelefon außer Reich- und Sichtweite zu platzieren?
Doch Rühle schafft es, sich Seite um Seite von einer eindimensionalen Situationsbeschreibung zu lösen. Der sehr oral geprägte, sicher nicht zufällig Blog-ähnliche Stil des Buches gibt weniger den Neuen Leiden des jungen A.R. einen Raum, als vielmehr einer recht umfassenden Iteration über literarische und philosophische Quellen zur Netz- und Aufmerksamkeitsdebatte. Bei aller Leichtigkeit des Journals wirft Rühle fast en passant Gedankenkrumen an den Leserand, die man erst überliest, dann zurückspringt und staunt, was das zunächst oberflächlich wirkende Entzugstagebuch da zum Beispiel über Frank Schirrmacher bietet: “Unser Leben ist so dermaßen ramponiert, dass ich vieles Netzgeschimpfe für ablenkend und damit systemstabilisierend halte.” (Ganz ähnlich äußerte sich Christoph Schlingensief mal über Harald Schmidt. Dies ist übrigens der einzige verspätete und versteckte Nachruf an dieser Stelle.). Über die Seiten sammeln sich so die Lektüre- und Querverweise – Hartmut Rosa, Nicholas Carr, Max Goldt, Georg Boas, Hermann Lübbe. Nach dem Buch hat man mehr zu lesen als davor.
Am Ende wird es fast nebensächlich, ob Rühle sein Experiment durchhält. Er hält nicht, so viel sei verraten. Tatsächlich hält man als Leser einen Augenblick inne und fragt sich selbst, wie sehr es um das eigene Wechselspiel von Konzentration und Ablenkung steht. Dass der konzentrierte Denker ein möglicherweise nur eine rückwirkende Stilisierung ist, steht auf einem anderen Blatt. Rühle ist es mit “Ohne Netz” jedenfalls gelungen, eine leichtfüßige aber fundierte Anleitung zum Sinnieren über den eigenen Umgang mit der fortwährenden Verlockung der Ablenkung im Netz an die Hand zu geben.
p.s.: Die ersten Seiten des Buches sind online einsehbar: