Leitmedium

Es gibt kein analoges Leben im digitalen.

Caspar C. Mierau arbeitet als technischer Berater und denkt als Medienwissenschaftler, der zur Computergeschichte promoviert, über die Geschichte und Gegenwart von Technologie nach. Er schreibt und podcastet an der Schnittstelle von Praxis und Theorie, Technik und Kultur. Notiert kurze Gedanken auf Mastodon. Hat "Leitmedium" ganz offiziell als Künstlername im Ausweis stehen.

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Beschreibung eines Kampfes

13. Juli 2007 by leitmedium

Ob er den Text denn schon einmal sehen
könne. Ich zögerte. Ja, ich hatte ihn bei und er lag als
entschuldigendes Ich-habe-schon-gearbeitet auf dem Tisch zwischen
uns. Jedoch zu keiner Lektüre bereit. Placebo. Er wolle nur mal
einen Blick hineinwerfen. Ganz unverbindlich. Ein Nein undenkbar. Wie
käme das an? Während linke und rechte Hirnhälfte noch
das Für und Wider des Preisgebens eines Textfragments
verhandeln, lösen meine Finger pragmatisch die Situation und
schieben den schon auf ein paar Millimeter gewachsenen Papierstapel
zu ihm rüber.

Stille.

Ich verfolge die Zeilenbewegung seiner
Augen. Sie erinnert an das Schreiben auf einer Schreibmaschine. Welch
Zufall. In der Antike mussten Sklaven vorlesen.

Stille.

Peinlich berührt ob der textuellen
Entblößung täusche ich ein Nippen an meinem längst
getrunkenen Milchkaffee vor. Immerhin ist der Rest des Milchschaums
zu einem Schluck Flüssigkeit geschmolzen und gibt der Geste
einen Hauch von Berechtigung.

Aha, er verstehe. Ja, die
Strukturierung. Da könne man noch etwas machen, sonst
nachvollziehbar. Aber jetzt müsse er doch mal auf eines
Hinweisen. Er lese ja zuerst die Fußnoten.
Literaturwissenschaftler. Mich beschleicht das Gefühl, in den
nächsten sechzig Sekunden mein Selbstwertgefühl zu
verlieren. So eine Fußnote sei ja ein Satz. Das solle ich mir
doch klarmachen. Ein Satz habe eine Grammatik. Das sei ja nichts
Schlimmes, wirklich nicht. Viele Studenten schreiben eben so. Es sage
ja nur etwas über die Mühe aus, die man in eine Arbeit
stecke. Gleißender Schmerz.

Ein Jahr später.

Im selben Restaurant sitzend, schiebt
er mir einen inzwischen auf einen Zentimeter gewachsenen Papierstapel
zurück. Ich habe ihm verschwiegen, dass die Milimeter nach dem
letzten Treffen aus texthygienischen Gründen entsorgt werden
mussten. Sie waren verflucht.

Eine sehr beachtliche Arbeit, er habe
auch nicht alles verstanden. Nein, das sei positiv gemein. Aber eines
müsse er mal sagen. Die Zeichensetzung. Das könne man doch
lernen. Ein Kloß im Hals. Es gebe doch nur drei wichtige
Komma-Regeln. Beschämtes Nicken. Welche er nur meint? Ich
schiebe innerlich alles darauf, dass er nur die Neue Rechtschreibung
nicht beherrsche. Das gelte auch für die Neue Rechtschreibung,
schiebt er hinterher. Durchhalten. Wenn das all seine Kritik ist,
rede ich mir ein, kann ich doch glücklich sein.

Kann ich nicht.

Eine halbe Stunde später.

Ein buntes Regal. Zeichensetzung für
Erwachsene. Die neuen Kommaregeln. Rechtschreibung in einer Woche.
Das Gefühl, zehn Jahre jünger zu sein. Eingeredete
Erinnerung. Damals brauche ich das auch nicht. Die Hand nähert
sich widerwillig einem Übungsheft, da brennen Augen im Rücken.
Er ist es. Er. Er, der eben etwas für immer zerstört hat.
Er sieht die Hand, das Buch. Nein, kein Lächeln, kein
erleichterndes Lachen. Nur ein vernichtend peinlicher Gruß. DAS
setzt Erinnerungen frei.

Ein halbes Jahr später.

Dieser Text. Fehlerbehaftet. Aber da.

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