Leitmedium

Es gibt kein analoges Leben im digitalen.

Caspar C. Mierau arbeitet als technischer Berater und denkt als Medienwissenschaftler, der zur Computergeschichte promoviert, über die Geschichte und Gegenwart von Technologie nach. Er schreibt und podcastet an der Schnittstelle von Praxis und Theorie, Technik und Kultur. Notiert kurze Gedanken auf Mastodon. Hat "Leitmedium" ganz offiziell als Künstlername im Ausweis stehen.

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Lochkarten in »Momo« und Michael Endes Verhältnis zu Computern

9. Juli 2025 by leitmedium Leave a Comment

In meiner immerwährenden Dissertation, die sich nach einer Ewigkeit dem Ende zuneigt, beschäftige ich mich mit bundesdeutscher Computer- und Fernsehgeschichte um 1970. Man gewinnt dabei mit der Zeit einen Blick für die Eigenarten der Zeit und erkennt bestimmte Muster in der Popkultur wieder. Als ich gerade mit einem Kind auf einer Autofahrt Michael Endes »Momo« hörte, war ich zunächst überrascht von der deutlichen Kapitalismuskritik mit den Grauen Herren und ihrer Zeitsparkasse. Man könnte den Text auch heute noch – oder gerade heute – in großen Teilen wiederholen. Doch wirklich überrascht war ich vom Auftauchen von Lochkarten im Text.

»Heute spielen wir Lochkarten«, erklärte Paolo, »das ist sehr nützlich, aber man muß höllisch aufpassen.« »Und wie geht das?«
»Jeder von uns stellt eine Lochkarte dar. Jede Lochkarte enthält eine Menge verschiedener Angaben: wie groß, wie alt, wie schwer, und so weiter. Aber natürlich nie das, was man wirklich ist, sonst wäre es ja zu einfach. Manchmal sind wir auch nur lange Zahlen, MUX/763/y zum Beispiel. Dann werden wir gemischt und kommen in eine Kartei. Und dann muß einer von uns eine bestimmte Karte herausfinden. Er muß Fragen stellen, und zwar so, daß er alle anderen Karten aussondert und nur die eine zum Schluß übrig bleibt. Wer es am schnellsten kann, hat gewonnen.«
»Und das macht Spaß?« fragte Momo etwas zweifelnd.
»Darauf kommt es nicht an«, meinte Maria ängstlich, »so darf man nicht reden.«
»Aber worauf kommt es denn an?« wollte Momo wissen. »Darauf«, antwortete Paolo, »daß es nützlich für die Zukunft ist.«

Ich wusste nicht, wann Ende Momo geschrieben hatte, vermutete aber sofort, dass es in den späten 1960er, frühen 1970er sein musste, denn die Lochkarte durchzog diesen Zeitraum als stilistisches Leitmotiv, an dem sich vor allem technikpositivistische Phantasmen aber auch Befürchtungen manifestierten. Momo erschien 1973 und Ende arbeitete seit der Mitte der 1960er Jahre an dem Roman. Zeitlich passt seine Einarbeitung des Motivs also in das Computerdenken der späten 1960er Jahre. Ungewöhnlich ist das Motiv dennoch – Endes Roman arbeitet sonst vor allem mit Metaphern aus Zeit, Geld und Wirtschaft. Zudem ist das Imitationsspiel von Kindern, die selbst Lochkarten darstellen, kein eingängiges Motiv. Es gab zwar in den 1960er Jahren an einigen Schulen und Universitäten teils körperbetonte Lehrmethoden, bei denen StundentInnen und SchülerInnen das Innenleben eines Computers nachstellen sollten, um seine Funktionsweise zu verstehen. Diese Methoden sind jedoch zu selten gewesen, um hier als Referenz herzuhalten. Die Lochkarten-Werdung der Kinderkörper bei Ende ist somit ein hervorstechendes Motiv, das nicht nur als Bezug auf bereits Gesagtes im zeitgenössischen Diskurs gelesen werden kann.

Ein mechanischer Musikautomat mit Lochstreifen/Lochkarten. Aufgenommen im Museum für Musikautomaten Seewen.

Jedenfalls scheint die Kritik Endes an der Einschreibung einer binären Computerlogik in das Menschsein deutlich und kurze Zeit später taucht ein weiteres Computermotiv auf: Der Papierstreifen. In einem Traum von Momo heißt es

Momo wollte Beppo so gerne helfen, aber sie konnte sich ihm nicht einmal bemerkbar machen. Er war zu weit fort, zu hoch droben. Dann sah sie Gigi, der sich einen endlosen Papierstreifen aus dem Munde zog. Er zog und zog immer weiter, aber der Papierstreifen hörte nicht auf und riß auch nicht ab. Gigi stand schon auf einem ganzen Berg von Papierstreifen. Und es schien Momo, als ob er sie flehend anblickte, als ob er keine Luft mehr bekommen könne, wenn sie ihm nicht zu Hilfe käme.
Sie wollte zu ihm hinlaufen, aber ihre Füße verfingen sich in den Papierstreifen. Und je heftiger sie sich zu befreien versuchte, desto mehr verwickelte sie sich darin.
Dann sah sie die Kinder. Sie waren alle ganz flach wie Spielkarten. Und in jede Karte waren richtige Muster kleiner Löcher gestanzt. Die Karten wurden durcheinandergewirbelt, dann mußten sie sich neu ordnen, und neue Löcher wurden in sie hineingestanzt. Die Kartenkinder weinten lautlos, aber schon wurden sie wieder gemischt, und dabei fielen sie übereinander, daß es knatterte und ratterte.

Der Papierstreifen im Traum ist nicht sofort als Computermetapher erkennbar. Er erinnert aber an die Endlos-Lochstreifen als Alternative zu Lochkarten oder, auf einer ganz abstrakten Ebene, an Turings Papierstreifen des Universellen Computers. Dass auch diese Szene eine Computermetapher zeigt spätestens der abermalige Rückgriff auf das Lochkartenmotiv – hier mit gelochten Kartenkindern, die durcheinanderfallen und dabei Geräusche einer mechanischen Rechenmaschine machen.

Das Zitat lässt sich nicht eindeutig verifizieren, findet sich jedoch in Begleitmaterialien, wenn auch ohne Quelle. Wir wollen es also mit Vorsicht genießen, wenn wir Michael Ende mit folgenden Zeilen zitieren:

„Ich schreibe sehr langsam, ich brauche keine Beschleunigungsmittel wie Computer oder Diktiergeräte, weil ich oft minuten-, viertelstundenlang, oft sogar noch länger über einem einzigen Satz sitze und versuche, ihn abzuschmecken: Wie muss man ihn jetzt drehen, damit er auch klingt … Das ist ja nicht nur Bild, das ist auch Melodie.“

Besser belegt ist ein wahrscheinlich früheres Interview-Zitat aus dem Jahr 1984 (sic). Der zum Interview-Zeitpunkt noch 16jährige und später als Buchautor und Informatiker arbeitende Oliver Bendel hatte Michael Ende einen Fragenkatalog schicken dürfen, den dieser knapp beantwortete. Retrospektiv fasst Bendel nach Endes Tod noch einmal die Antwort auf die Frage zum Computer wie folgt zusammen:

1984 fragte ich nach den Zukunftsaussichten für das Buch … Die Antwort lässt an Deutlichkeit nichts vermissen: “8) ME glaubt, dass Computer u. dgl. n i e Bücher ersetzen werden.” Derjenige, der die Antworten aufschrieb, war ein Meister der Abkürzung, und dass der Meister selbst abgekürzt wurde, rückte diesen in die Nähe von Unsterblichen, mehr als eine Dekade vor seinem Tod. “Computer u. dgl.” – besser kann man es nicht sagen, wenn man es abfällig meint. Und das gesperrte “n i e” – schöner kann man es nicht setzen, nicht einmal mit den heutigen technischen Möglichkeiten.

“Computer u. dgl.” waren für Ende, man darf es spätestens nach der Momo Lektüre vermuten, zeitfressende Maschinen, die der Zeitsparkasse in die Hände spielten und das Gegenteil eines schweigendes Kindes, das die Menschheit durch aufmerksames Zuhören rettet. Sie sind Beschleunigungsmaschinen, die den Genuss des Augenblicks verhindern – ganz im Sinne von Paul Virilios Dromologie, der Lehre von der Geschwindigkeit als kultureller Macht. Doch ohne tiefer in eine philosophische Analyse des Märchens einzusteigen: Die Einarbeitung der Lochkarten in Momo ist ein verstörender Moment – ein Reflex seiner Zeit, der sich zugleich gegen den Computerzeitgeist stellt.

p.s.: Im Oktober diesen Jahres erscheint eine Neuverfilmung von Momo. Da waren wohl viele Computer mit im Spiel.

  • Computerphantasmen: Der Großrechner Siemens 4004 in »Willy Wonka und die Schokoladenfabrik« (1971)
  • Zu Gast beim neuen Podcast »Coding History«: Gespräch über Geschichte der Entwicklungsumgebungen
  • Kurzbesuch im (Robotron-) Computermuseum »Rechenwerk« in Halle

Filed Under: Allgemein

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