Unternehmen, Organisationen und auch Privatpersonen setzen bei IT-Entscheidungen oft auf Standardlösungen – nicht immer, weil sie die beste Wahl sind, sondern weil sie sich sicher anfühlen. Wer sich für Slack, Teams oder Office 365 entscheidet, bewegt sich auf bekanntem Terrain und kann wenig falsch machen. Doch diese Bequemlichkeit hat ihren Preis: Sie führt zu Abhängigkeiten, macht Alternativen unsichtbar und verhindert echte Innovation. Warum tappen wir immer wieder in diese Entscheidungsfalle – und wie lässt sie sich bewusst umgehen?
Eine neue Slack-Instanz ist schneller geklickt, als man überhaupt darüber spricht, welches Kommunikationstool ein Unternehmen nutzen will. Warum auch lange diskutieren? Es gibt ja die Standardlösungen: Slack für den Firmenchat. Microsoft Teams für Zusammenarbeit. Vielleicht gleich ganz Office 365? Oder doch Googles Produktsuite mit den gewohnten E-Mail- und Kalenderdiensten
Sie passen für jede Unternehmensgröße – vom Start-up über den Verein bis zum Großkonzern. Doch warum setzen wir immer wieder auf dieselben Lösungen, obwohl wir längst wissen, dass sie uns abhängig machen?* Und wie kommen wir aus dieser Falle wieder heraus?
* (Siehe dazu auch mein Artikel auf golem.de und Besuch bei Radio Breitband im Deutschlandfunk Kultur).
Der »Bandwagon Effect«
Im englischsprachigen Raum beschreibt der „Bandwagon Effect“ die Tendenz, sich unkritisch einer Mehrheitsentscheidung anzuschließen, um von ihrer Popularität zu profitieren. Der Begriff geht auf eine Anekdote zurück, die gerade in der Diskussion um den Ausstieg aus US-amerikanischen Diensten bemerkenswert aktuell ist:
1848 lud der bekannte Zirkusclown Dan Rice den damaligen Präsidentschaftskandidaten und späteren US-Präsidenten Zachary Taylor auf seinen Bandwagon – den Wagen einer Musikkapelle, die mit viel Tamtam durch die Straßen zog. Während Taylors Popularität stieg, hieß es bald, dass auch seine politischen Konkurrenten doch „auf den Bandwagon aufspringen“ sollten, um vom Hype zu profitieren.
„To jump on the bandwagon“ bedeutet also, sich einer Bewegung oder Entscheidung anzuschließen, nur weil sie irgendwie als Standardlösung gilt – und nicht, weil sie zwingend die beste Wahl ist. Diese ironischerweise US-amerikanische Anekdote sollten wir im Hinterkopf behalten, wenn wir uns fragen: Warum springen wir immer wieder auf den Bandwagon auf, statt Alternativen gründlich zu prüfen? Warum fällt es uns so schwer, von längst bekannten Bedenken über Standardlösungen Konsequenzen abzuleiten – obwohl wir es eigentlich besser wissen?
Die Effizienz-Falle
Der Bandwagon-Effekt erscheint zunächst verlockend effizient. Wer nicht diskutiert, spart Zeit! Software-Evaluationsprozesse können sich endlos ziehen: Leistungsanforderungen definieren, Features vergleichen, Akzeptanz im Team sicherstellen – all das kostet Zeit und Nerven. Die Entscheidung für eine Standardlösung verkürzt diesen Prozess erheblich: „Ja, kennen wir!“ – das klingt pragmatisch, spart Einarbeitungszeit und vermeidet mühsame Grundsatzdiskussionen.
Doch diese vermeintliche Effizienz ist oft nur eine Problemverschiebung. Sie spart Aufwand in der Entscheidungsphase, kann aber langfristig zu größeren Schwierigkeiten führen:
- Passt die Standardlösung wirklich zur eigenen Organisation?
- Gibt es nicht leistungsfähigere Alternativen – mit besserem Support oder flexiblerer Anpassung?
- Und vor allem: Macht uns diese Entscheidung nicht noch abhängiger?
Der Wunsch nach Effizienz lässt oft kurzfristige Taktik mit langfristiger Strategie verwechseln.
Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit
Wer sich für eine Standardlösung entscheidet, taucht ein in ein vertrautes Ökosystem – voller Gleichgesinnter. Man teilt dieselben Vor- und Nachteile wie der Großteil der Branche, diskutiert augenzwinkernd über nervige Eigenheiten des Systems und klagt gemeinsam über „diese eine Sache, die mal wieder nicht funktioniert“. Statt mit exotischen Problemen zu irritieren, kann man sich in ein kollektives Loblied oder Klagelied einstimmen, das unhinterfragt durch die Flure schallt. Man gehört dazu, sitzt im gemeinsamen Wagen – und das fühlt sich gut an.
Doch diese verbindenden Gemeinsamkeiten können die eigentliche Frage übertönen: Ist es wirklich die beste Lösung? Statt nach der optimalen Software zu suchen, wird Zugehörigkeit zur Ersatzwährung für rationale Entscheidungen. Die Gemeinschaft gibt Sicherheit – doch oft auf Kosten besserer Alternativen für Unternehmen und Mitarbeiter:innen.
Die Angst, etwas zu verpassen (FOMO)
Standardlösungen der großen Anbieter kommen fast immer mit überbordendem Funktionsumfang. Sie sind mit einem Feenstaub aus Features überzogen, um jeglichen Zweifel an ihrer Universalität zu zerstreuen. Wer sich als „die Lösung“ am Markt behaupten will, kann es sich nicht leisten, nur auf spezifische Use-Cases optimiert zu sein – also wird einfach alles eingebaut. Das funktioniert bei der Entscheidungsfindung. Während spezialisierte Alternativen oft schlanker und gezielter sind, vermitteln Standardlösungen das wohltuende Gefühl, nichts zu verpassen. Sollte man jemals Feature X brauchen – es ist ja schon drin! Und wenn sich etwas Neues durchsetzt – der Anbieter wird es garantiert einbauen!
Doch genau dieser Feature-Overkill wird zum Problem. Man denke nur an den Button-Wust bei der Bearbeitung eines simplen Office-Dokuments: Die schiere Menge an Funktionen kann überfordern. Was zunächst als Zeitersparnis durch Standardlösungen erscheint, endet oft in einem nie endenden Strom aus Schulungen, Workarounds und vermeintlichen „Das ist kaputt!“-Meldungen oder schlichter Ignoranz gegenüber dem Produkt, das man doch eigens eingekauft hat. Diese Lösungen sind wie eine High-End-Küchenmaschine mit dutzenden Aufsätzen – beeindruckend, aber für die meisten reicht eben doch ein preiswerteres einfaches Gerät. Und der lässt sich nicht selten auch einfacher verstehen und bedienen.
Angst vor Kritik: Der Safe-Choice Bias
Doch was ist die wohl größte Versuchung, eine Standardlösung unkritisch einzusetzen? Die Angst vor Kritik.
Gerade in größeren Unternehmen mit Hierarchien und Verantwortungsdruck will niemand eine „falsche“ Entscheidung treffen. Aber auch in kleineren Organisationen und sogar im Privaten vermeidet man lieber Diskussionen über ungewöhnlichere Lösungen. Die Standardlösung ist immer die sichere Wahl – nicht, weil sie die beste ist, sondern weil sie weniger Angriffsfläche bietet.
Denn Kritik kommt nicht, wenn eine Software funktioniert – sondern wenn sie es nicht tut. Und genau hier schlägt der Safe-Choice Bias zu:
- Fällt eine Standardlösung aus, etwa Slack oder Teams, dann wird gemeinsam gewitzelt – das Internet produziert Memes, und das Problem wird als unvermeidliches „Wetterereignis“ hingenommen.
- Fällt hingegen eine alternative Lösung aus, etwa eine selbstgehostete RocketChat-Instanz, gibt es kein kollektives Schulterzucken – sondern direkt die Frage: „War das wirklich eine gute Idee?“
Das Problem ist nicht, dass Standardlösungen weniger Probleme haben – sondern, dass wir ihre Probleme anders bewerten.
Und diese Psychologie hat direkte wirtschaftliche Folgen. Während sich die meisten Produkte durch Wettbewerb und sinkende Nachfrage verbilligen, steigen die Preise für Standardlösungen oft mit der Nutzerzahl. Der Ökonom Gary Becker hat gezeigt, dass der Preis für Produkte mit starkem Bandwagon-Effekt, der in unserem Fall durch den Safe-Choice Bias verstärkt wird, oft steigt, weil die normale Nachfragekurve verändert wird.
Kurz gesagt: Wir zahlen nicht nur mit unserer digitalen Souveränität – sondern oft auch mit Geld, weil wir einem gefühlten Zwang unhinterfragt nachgeben.
Drei Wege aus der Entscheidungsfalle
Was bleibt also? Die Erkenntnis, dass die Entscheidung für Standardlösungen in der IT nicht immer rational ist.
Zwar bieten die großen Anbieter reife, umfassende Produkte mit oft niedrigen Einstiegspreisen, doch die Entscheidung für sie wird selten auf Grundlage einer gründlichen Evaluation getroffen. Viel häufiger dominiert eine Mischung aus Gewohnheit, Gruppendruck und der Angst, eine unpopuläre Entscheidung treffen zu müssen. Doch dieser vermeintlich sichere Weg hat seinen Preis. Er unterstützt
- digitale Abhängigkeit,
- nicht selten langfristig steigende Kosten durch weniger Wettbewerb,
- fehlende Anpassung an individuelle Bedürfnisse.
Wer aus dieser Falle ausbrechen will, sollte drei Strategien in Betracht ziehen.
Erstens: Mut zu Alternativen
IT-Entscheidungen erfordern unternehmerischen und auch privaten Mut. Statt reflexartig das zu übernehmen, was „alle anderen“ tun, sollten wir alternative Lösungen ergebnisoffen evaluieren.
Es geht nicht darum, das Rad neu zu erfinden, sondern fundierte Entscheidungen zu treffen – auch wenn sie unbequemer erscheinen. Der erste Reflex, eine nicht marktführende Lösung als zu riskant oder zu experimentell abzutun, sollte hinterfragt werden.
„Digitale Resilienz braucht Mut – und Nachsicht gegenüber neuen Wegen.“
Dabei steht man nicht zwangsläufig allein. Genossenschaftliche IT-Modelle ermöglichen den wirtschaftlichen Zusammenschluss für unabhängige Infrastruktur. Open-Source-Projekte bieten Community-gestützte Entwicklung, die langfristig oft stabiler und flexibler ist als proprietäre Alternativen. Fachkonferenzen, Verbände und Netzwerke schaffen Räume für Austausch und Wissenstransfer, die weit über das hinausgehen, was klassische Anbieter bieten können.
Zweitens: Faire Bewertung statt doppelter Standards
Der entscheidende Fehler vieler Unternehmen ist nicht, dass sie sich für Standardlösungen entscheiden – sondern, dass sie deren Schwächen anders bewerten als die von Alternativen.
Ein klassisches Beispiel: Dateiformate:
Jeder, der mal ein Word-Dokument mit komplexer Formatierung von einer Microsoft-365-Version in eine andere übertragen hat, kennt das Problem: Tabellen zerschossen, Abstände willkürlich, Schriften verrutscht. Man ärgert sich, flucht kurz, aber nimmt es als gegeben hin – „ist halt Word“.
Passiert aber ein ähnlicher Formatierungsfehler in einer Open-Source-Office-Lösung, heißt es sofort: „Daran sieht man, dass das nichts taugt!“
Diese doppelte Bewertung führt dazu, dass Organisationen systematisch in Abhängigkeiten verbleiben. Jede technische Infrastruktur hat Schwächen. Die Entscheidung für eine alternative Lösung bedeutet nicht, dass es keine Probleme geben wird – sondern, dass man bereit sein muss, sie mit der gleichen Nachsicht zu bewerten, die man etablierten Anbietern ohnehin gewährt.
Drittens: Klare Kriterien statt Gewohnheit
Viele IT-Entscheidungen werden aus Gewohnheit oder vagen Präferenzen getroffen – ohne genau zu überlegen, was man eigentlich braucht. Dabei wäre genau das der erste Schritt: Klar definieren, welche Anforderungen eine Lösung erfüllen soll. Das muss nicht in bürokratische Endlosprozesse ausarten. Es reicht oft, sich bewusst zu machen: Was ist wirklich wichtig? Welche Funktionen werden tatsächlich genutzt? Wo liegen mögliche Abhängigkeiten? Einfache Methoden wie Anforderungslisten, User Stories oder iterative Tests helfen dabei, Entscheidungen transparenter und fundierter zu treffen.
Natürlich gibt es auch umfangreiche Modelle wie ISO 25010, die Softwarequalität bewerten – für viele Unternehmen aber zu schwerfällig, für Privatpersonen ohnehin irrelevant. Viel wichtiger ist: Nicht einfach „den Standard“ wählen, sondern eine Lösung, die wirklich zum eigenen Vorhaben passt. Dabei sollten auch oft unterschätzte Faktoren wie digitale Souveränität, langfristige Kosten und Anpassungsfähigkeit berücksichtigt werden – statt die Entscheidung allein von der Angst vor der Abweichung vom Bekannten bestimmen zu lassen.
Fazit
Der sicherste Weg ist nicht immer der beste. Wer Standardlösungen vor allem deshalb wählt, weil sie von allen genutzt werden, entscheidet nicht strategisch, sondern defensiv. Es braucht Mut, Alternativen zu erproben. Es braucht die Bereitschaft, sie fair zu bewerten. Und es braucht Entscheidungsprozesse, die mehr als nur Bequemlichkeit abbilden. Nur so lässt sich langfristig eine IT-Landschaft gestalten, die nicht nur funktioniert, sondern auch in der eigenen Kontrolle bleibt.
IT-Lösungen sind keine Versicherungsverträge – wer nur Fehler vermeiden will, trifft selten die besten Entscheidungen. Sicherheit ist essenziell, aber Angst vor Kritik keine Strategie.
Die Entscheidung für Standardlösungen ist oft eine Entscheidung aus Angst. Wer souveräner werden will, muss es wagen, von der Norm abzuweichen.
Caspar Clemens Mierau arbeitet freiberuflich seit über 25 Jahren in Infrastruktur- und Security-Projekten – sowohl strategisch beratend als auch Hands-on. Er unterstützt Unternehmen bei der Umsetzung digitaler Souveränität und resilienter IT-Strategien. Nebenberuflich promoviert der Medienwissenschaftler zur Computergeschichte der 1970er Jahre, bloggt und podcastet zu Technik-, Medien- und Elternthemen. Und er mag kooperative Brettspiele und wirklich guten Kaffee.