Seit einiger Zeit mäandert die Diskussion darüber, ob Organisationen, Journalist:innen und Politiker:innen Twitter/X verlassen sollten, vor sich hin. Eigentlich sind alle Argumente längst aufgeschrieben, und doch gibt es immer wieder Anlass, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Kürzlich stieß ich auf einen überraschend deutlichen Aufruf an die Wissenschaft, doch auf X zu verweilen. Die Forderung und die zugrunde liegende Argumentation irritierten mich, weshalb ich auf Mastodon eine kurze Replik schrieb. Hier fasse ich meine Gedanken noch einmal zusammen.
tl;dr: Die Argumente für den Verbleib auf X
Zusammengefasst argumentiert der Artikel, dass die Wissenschaft trotz der negativen Entwicklungen auf X präsent bleiben müsse. Der Autor betont, dass Wissenschaftskommunikation nicht nur in komfortablen Umgebungen stattfinden sollte, sondern gerade dort, wo es „laut ist und stinkt“, um der Gesellschaft zu dienen und als Korrektiv für Desinformation zu wirken. Ein Rückzug der Wissenschaft aus X könnte dazu führen, dass wissenschaftsfeindliche Stimmen dort ungehindert dominieren und man sich in den »Elfenbeinturm« zurückziehe.
Das ist eine recht bodenständige Argumentation, die völlig außer Acht lässt, dass nachweislich Algorithmen bestimmen, welche Informationen überhaupt sichtbar sind. Vielmehr hat man auf X entweder das Gefühl, in ein Erdloch zu brüllen oder einer feindseligen Meute zum Fraß vorgeworfen zu werden. Doch wir wollen die Forderung noch einmal anders beleuchten, denn der Rückzug von X hat nicht nur eine politische-ethische Dimension, sondern auch wirtschaftliche, psychologische und zeitökonomische Aspekte.
Wirtschaftliche Perspektive
Aus wirtschaftlicher Sicht erscheint es absurd, eine Plattform, die ihr Geld mit der Schaltung von Werbung zwischen Posts verdient, dadurch zu unterstützen, dass man die Feeds füllt. Plattformen brauchen Content als Leinwand, auf der sie Werbung platzieren können. Sie brauchen aktive Profile von User:innen, um die Werbung möglichst zielgruppengenau ausliefern zu können. Der Besitzer der Plattform profitiert direkt von der Nutzung der Plattform, konterkariert aber zugleich technologisch und inhaltlich eben jenen wissenschaftlichen Ansatz, der hier propagiert werden soll. Die Nutzung der Plattform verstärkt also Netzwerkeffekte und stellt Content bereit, mit dem eben jene Akteure Geld verdienen, die manipulativ agieren und die Plattform in ihrem Sinne prägen. Wer weiterhin auf X aktiv ist, trägt zum kommerziellen Erfolg der Plattform bei und stabilisiert Strukturen, die sich in vielerlei Hinsicht problematisch entwickelt haben.
Psychologische Belastung
Gleichzeitig ist nicht zu unterschätzen, welche psychologische Belastung damit einhergeht, sich auf einer Plattform zu bewegen, auf der Anfeindungen an der Tagesordnung sind. Wissenschaftliche Institutionen können zwar in gewisser Weise Schutz bieten, indem sie eine gewisse Rückendeckung gewähren, doch der Hass auf X schlägt letztlich doch immer wieder direkt auf Einzelpersonen durch. Es gibt zahlreiche Fälle von Wissenschaftler:innen, die sich aus Selbstschutz zurückgezogen haben – teils, weil sie die Anfeindungen nicht mehr aushielten, teils, weil sie konkret bedroht wurden. Und es sind nicht nur feindselige und wissenschaftsfeindliche Kommentare der NutzerInnen der Plattformen, die hier gemeint sind: Mit finanziellem und juristischem Druck geht die Plattform selbst gegen unliebsame Wissenschaft vor. Das ist nicht zum Aushalten – im wörtlichem Sinn.
Zeitökonomie und Prioritäten
Ebenfalls nicht zu vernachlässigen ist die Frage nach der Zeitökonomie. Eine Plattform aktiv zu bespielen kostet Zeit: Posts müssen geplant, vorbereitet und veröffentlicht werden, Kommentare wollen gesichtet, moderiert und beantwortet werden. Will man seine begrenzte Zeit wirklich in eine Plattform investieren, die man aus vielen anderen Gründen nicht mehr unterstützen kann oder will? Oder wäre sie nicht besser in zielführendere, konstruktivere Kommunikationskanäle investiert? Es gibt keine allgemeine Regel, die besagt, dass Wissenschaftler:innen X nutzen müssen. Das mag einmal indirekt so gewesen sein, als Twitter eine relevante Reichweite hatte und eine gute Vernetzung ermöglichte. Beides ist heute nicht mehr der Fall.
Vielleicht ist es auch die fragmentierte Postmoderne der Plattformen, die hier spürbar wird, gepaart mit einem ehemaligen Anwesenheitsbefehl, der nun überholt ist. Das Stöhnen über den Abschied ist vielleicht weniger ein inhaltliches Argument als ein Zeichen jener Trägheit, sich an neue Gegebenheiten anzupassen.
Der Elfenbeinturm-Vorwurf
Und nicht zuletzt bleibt der Vorwurf an Wissenschaftler:innen, die X den Rücken zukehren, sie würden sich in den Elfenbeinturm zurückziehen. Der Elfenbeinturm ist ein wohlfeiler Allgemeinplatz in der Kritik an wissenschaftlichen Institutionen. Der Vorwurf lässt sich immer erheben, er findet sein zustimmendes Publikum – das macht ihn aber nicht richtiger. Im Gegenteil: Der bewusste Rückzug von X kann ein Zeichen von Haltung sein. Wissenschaft passt sich an neue Kommunikationsformen an, hinterfragt ihre Kanäle und entscheidet sich aktiv für sinnvollere Wege des Austauschs. Sie prägt mit ihren Handlungen Normen, zeigt Alternativen auf und regt damit auch gesellschaftlichen Diskurs an.
Diese Haltung ist auch ein Signal in Richtung Journalismus. Eben jenem Journalismus, der hier kritisiert, dass die Wissenschaft die Plattform verlässt und sich dabei vielleicht die Frage gefallen lassen muss, ob es nicht auch einfach etwas unbequem ist, wenn die Themen jetzt nicht mehr vor die digitale Haustür der Newsportale zitiertfähig gespült werden. Vorbei die Zeiten, in denen drei eingebettete Tweets ein halber Artikel sind. Warum es damit vorbei sein sollte, ist deutlich geworden. Und vielleicht sollten JournalistInnen ebenfalls die Plattform verlassen, statt sie neben PolitikerInnen am Leben und zitierfähig zu halten. Es gibt so viele andere Orte für öffentlichen Diskurs. Diese Orte riechen weniger.