TW: Kindstod
»Mareice kommt nächstes Wochenende mit ihren Kindern zum Frühstück«, verkündete fraumierau. Ich freue mich, wenn wir Besuch bekommen und ich meine Frühstückskreationen noch mehr Menschen präsentieren kann. Diesmal beschlich mich ein wenig Bedrückung. Schon öfters habe ich Mareice gesehen und manchmal war eine ihre Töchter dabei. »Kaiserin 2« nennt sie sie. Ein kleines, drolliges Kind mit großen braunen Kulleraugen. Ich wusste, es gibt noch ein Kind, über das Mareice oft erzählt und schreibt: ihre mehrfach behinderte, ältere Tochter. Kaiserin 1. Sie sei blind und taub, erzählte sie.
Blind und taub. Monatelang habe ich immer wieder darüber nachgedacht. Wie ist es, nichts zu sehen und nichts zu hören? Wie wenig ich doch weiß von Behinderungen. Heißt blind wirklich nichts sehen? Heißt taub wirklich nichts hören? Wie nimmt man die Welt wahr? Und wie ist es als Elter? Wie kommuniziert man? Immer wieder habe ich darüber nachgedacht.
Nun sollten sie zu Besuch kommen. Alle drei. Mareice und ihre Töchter. Kaiserin 2 fremdelte erst etwas, um dann fröhlich durch die Wohnung zu ziehen. Ihre größere Schwester blieb bei uns in der Küche. Ich hatte sie mir kleiner vorgestellt. Eigentlich hatte ich immer ein Baby vor Augen. Ich weiß auch nicht, warum. Aber es war ein großes Mädchen. Vielleicht so groß wie meine Tochter, die jetzt im Nebenzimmer spielte.
Mareice hatte Kaiserin 1 auf dem Schoß. So konnte sie schlecht frühstücken. Ob ich sie auf den Schoß nehmen könne? Klar. Da saß sie nun. Und ich war erst einmal überfordert. Ich bin bald dreifacher Vater und weiß ganz gut, wie man mit Kindern umgeht, aber diesmal war ich zunächst ratlos. Sprache und Blicke zählten nicht. Auf mir saß ein Mensch, der über Geruch und Tastsinn kommuniziert. Ich hielt ihr meine Hand hin. Sie tastete mich ab. Wie sich das wohl anfühlt, überlegte ich. Wahrscheinlich bemerkt sie meine Haare am Arm. Vielleicht rieche ich fremd? Eine Weile kommunizierten wir so. Ich wurde entspannter. Sie nieste. Nase putzen. Kann ich. Kein Problem.
Dann begann sie, sich zu verspannen. Sie zappelte leicht hin und her. Mareice bat mich, sie einfach auf den Fußboden zu legen. Sie wolle die Gegend erkunden. Ich legte sie vorsichtig ab. Sie tastete sich durch die Küche. Fasste Tisch- und Stuhlbeine an, hantierte am Kühlschrank. Ich war aufgeregt. Es könne ja etwas passieren. Mareice war entspannt. Stimmt, dachte ich: Es ist ein großes Kind. Unnötig unruhig bin hier nur ich. Entspann Dich, da ist einfach nur Mensch und erkundet die Umgebung. Auf eine ganz eigene Weise.
Irgendwann setzten wir uns alle ins Wohnzimmer. Der Teppich war angenehm warm. Die Kinder tobten ein wenig und Kaiserin 1 erkundete auch die neue Umgebung. Plötzlich setzte sich meine Tochter neben sie. Sie nahm ihre Hand und hielt sie fest. So hielten die beiden großen Mädchen inne. Ich musste schlucken. Keine Erklärung, kein Fremdeln. Sie hatte sich einfach danebengesetzt, ihre Hand gehalten und etwas so Unbeschwertes getan, wozu ich nach monatelangem Grübeln nicht in der Lage war.
Der mit den Problemen war ich.
Nun ist Kaiserin 1 gestorben. Meine Kinder erkundigen sich neugierig „Warum?“. Ja, warum eigentlich? Warum stirbt jemand? Wie erklärt man sowas? Und wie kann ich mein Mitleid richtig ausdrücken? Schon wieder so viele Fragen. Aber eine Antwort bleibt: Kaiserin 1 war ein wundervoller neugieriger Mensch. Sie hat mich in nur wenigen Minuten viel über mich gelehrt. Dafür bin ich sehr dankbar. Und das werde ich nie vergessen.
Danke.
@leitmedium so schön geschrieben! Und das Foto ist der Wahnsinn. Danke fürs Teilen!
@leitmedium @Mareicares woran ist sie gestorben?
@leitmedium Schön und traurig! Danke für diesen Artikel, auch wenn er einen mit einem schweren Herzen zurück lässt. 🙁
@leitmedium (((❤)))
@leitmedium ?(( ))
@leitmedium sehr einfuhlsam geschrieben. ..ein kleiner Ausflug in eine andere Welt. Danke!
@leitmedium Danke für den schönen Text!
@leitmedium ❤️
Ich hab gerade einen Kommentar geschrieben, der wahrscheinlich länger war als dein Text. Ich hab ihn gelöscht. Hier die Quintessenz: Danke! Das hast du sehr schön geschrieben/beschrieben.
@leitmedium @Mareicares Tränen in den Augen… Immernoch! ??
Wow.
@leitmedium Ganz toll geschrieben! Danke!
RT @leitmedium: Gebloggt: Eine Kaiserin zu Besuchbit.ly/1NWwi7M#EinElefantfuerdich
Wunderbare Worte. Ich habe den Eindruck sie hat vielen Menschen sehr viel gegeben uns das Leben vieler anderer Menschen bereichert. Danke Kaiserin 1 dafür. Und danke leitmedium für deine offenen Worte
@leitmedium danke
@leitmedium eindrucksvoll ,ergreifend geschrieben.
@leitmedium vielen Dank für die Teilhabe an diesem Erlebnis und eine innige Umarmung an @Mareicares und Ihre Familie.
@leitmedium Danke! ((( )))
Bin berührt über die Thematik des Textes -überraschend stark- erschüttert über den Trauerfall. :'(
Danke!
Einfach traurig, toller Text ?
Kleiner Text mit viel Tiefgang. Danke.