Seit kurzem bietet “niiu” im Raum Berlin eine “individualisierte Tageszeitung” an. Das ist erst einmal ein schlechter Start für eine längerfristige Beziehung: “individualisiert” ist ganz offensichtlich das “personalisiert” 2.0 (Wer kann es schon noch hören?) und “niiu” entpuppt sich beim zweiten Lesen und dabei laut sprechen als hippes “new”.
Fangen wir also noch mal von vorn an: niiu ermöglicht es, aus einer Auswahl von Tageszeitungen, Online-Magazinen und Blogs täglich eine persönliche, gedruckte Zusammenstellung per Post zugeschickt zu bekommen. Das klingt nach einer modernen Lösung für ein altes Problem: Man ärgert sich eben doch, eine Zeitung zu kaufen, von der einen nur ein Fünftel interessiert und zugleich das dumpfe Gefühl hinterlässt, in anderen Zeitungen etwas zu verpassen: Der Lokalteil der Berliner Morgenpost, das Feuilleton von taz und Tagesspiegel und vielleicht ja auch doch mal “Vermischtes” aus der BILD. Wer weiß…
Registrierung
Auf der niiu-Seite legt man sich einen neuen Zugang an. Derzeit muss man ca. einen Tag auf Freischaltung und Bestätigung warten, was etwas verwundert, da nicht ausreichend drauf hingewiesen wird. Neue Nutzer erhalten kostenfrei 144 Punkte, die 12 Zeitungsausgaben (zu je 12 Punkten), also zwei Wochen ohne Sonntagszustellung entspricht. Das ist für den Einstieg ein faires Angebot. Zusammenstellung Nach Erhalt der Bestätigungs-E-Mail kann man sich auf der Seite einloggen und seine persönliche niiu-Ausgabe zusammenstellen. Für den Bereich Print gibt es eine überschaubare aber durchaus breit gefächerte Auswahl an Tageszeitungen:
- Abendzeitung München,
- B.Z.,
- Berliner, Morgenpost,
- BILD,
- Der Tagesspiegel,
- die tageszeitung (taz),
- Frankfurter Rundschau,
- Hamburger Abendblatt,
- Handelsblatt,
- International Herald Tribune,
- Komsomolskaya Pravda,
- Mitteldeutsche Zeitung,
- Neue Osnabrücker Zeitung,
- Neues Deutschland,
- Nordwest Zeitung,
- The New York Times,
- Washington Times.
Aus jeder Zeitung lassen sich keine, einzelne oder mehrere Ressorts gezielt auswählen und der Wichtigkeit nach sortieren. Die Sortierung ist notwendig, da niiu nur über eine begrenzte Seitenzahl verfügt und ggfls. Inhalte, die die Seitenzahl sprengen würden nicht aufnimmt. Ein einfacher Wasserglas-ähnlicher Füllstandsanzeiger zeigt dabei vage an, ob die aktuelle Auswahl “leer”, “ausreichend” oder “sicher gefüllt” ist. Da die Seitenanzahl der Ressorts von Ausgabe zu Ausgabe varriert, ist eine genauere Auskunft offenbar nicht möglich. Ähnlich gestaltet sich die Auswahl der Online-Medien (wie zum Beispiel golem.de, kicker.de und laut.de) und Blogs. Die Auswahl funktioniert hier ähnlich zur Print-Auswahl, zeigt jedoch, wie schwierig es ist, Blogs wie “Basic Thinking” in ein Ressort einzuordnen. Hier verbringt man bei der Auswahl deutlich mehr Zeit, wenn sich am Ende auch heraustellt, dass der Online-Anteil der niiu nur ein knappes Zehntel beträgt.
Das Produkt
Geliefert wird ab dem nächsten Werktag (Samstag eingeschlossen) eine jeweils tagesaktuelle, 24-seitige niiu. Das vierseitige Umschlag-Blatt mit (frei wählbarem) Titel, Anschrift des Kunden, Informationen zum Format, zwei Vollseiten Anzeigen und dem Rest Online-Inhalten, Wetterbericht und “Widgets” wie “Sudoku” verleiht der niiu das Aussehen einer klassischen Tageszeitung mit zugegeben etwas misslungen modernen Design.
Zwanzig Seiten beinhalten als eigentlicher Teil im Vollformat Zeitungsseiten – erfreulicherweise komplett inklusive Seitenzahl, Datumsange und Titel, so dass sie ggfls. sogar zitierfähig sind. niiu ist also eine zwanzig-seitige Zeitung zzgl. zwei Seiten Blog- und Online-Auszügen, sowie etwas Ornament. Alternativ steht auf der Webseite eine E-Paper-, also PDF-Version der jeweils aktuell Ausgabe zum Download bereit.
Komplimente
Erzählt man von “niiu”, zeigen sich die meisten interessiert: Das Konzept ist schlüssig und irgendwie an der Zeit. Zwar finden sich viele der Artikel auch im Netz, aber ein gedrucktes Feuilleton oder ein mehrseitiger Lokalteil lassen sich in der U-Bahn eben doch auch nicht schlecht lesen und mit später vielleicht anstreichen. Die initiale Auswahl an Zeitungen ist zwar nicht überwältigend, aber durchaus in der Lage für jeden Geschmack etwas zu bieten. Wenn es nicht unbedingt eine Zeitung sein muss, die (aktuell noch?) fehlt, lässt sich ein durchaus interessantes lokales, nationales und internationales Potpourri zusammenstellen.
Auch die Auswahl an Online-Magazinen und Blogs ist bereits breit gefächert und bietet genug Möglichkeiten, die wenigen Online-Seiten garantiert zu füllen. Der Preis von ca. EUR 1.80 pro Ausgabe ist gemessen an üblichen Tageszeitungspreisen nicht billig, rechnet man jedoch den Anteil an überschüssigen Seiten raus und den Wert einer recht zielgenauen Zusammenstellung ein, erscheint er fair. Studenten zahlen übrigens nur EUR 1.20.
Kritik
niiu ist junges Produkt, daher stellen die folgenden Kritikpunkte eine Beschreibung des aktuellen Ist-Zustands und keine endgültige Bewertung dar:
1. Die Webseite
Beginnen wir mit der Technik: Die Webseite reagiert sehr träge, was es etwas mühselig macht, sich die passende Auswahl zusammenstellen. Die Menüführung ist recht unübersichtlich und man ist sich nie ganz sicher, ob man alles notwendige erledigt hat oder nicht. Hier wünscht man sich, besser an die Hand genommen zu werden. Leider fehlen auch an präsenter Stelle Informationen darüber, wie viele Seiten eine “niiu”-Ausgabe denn nun eigentlich hat und ob und wie man die Zustellungen beeinflussen kann (Werktags vielleicht am Arbeitsplatz?). Es gibt zwar einen Hilfebereich, dieser ist aktuell aber noch eher Platzhalter denn Wegweiser.
2. Materialität
Man ist schon beeindruckt, wenn man das erste Mal seine tagesaktuelle, persönliche niiu in den Händen hält. Dennoch: Die Qualität des Materials ist noch nicht überzeugend. Das Papier ist ungewöhnlich dick, die Farben zwar da, aber irgendwie matt und ab und zu schleichen sich Druck-Streifen ein.
Besonders internationale Zeitungen passen nicht gut ins Standard-Maß, so dass sie mit weißen Rändern abgedruckt werden und dadurch klein erscheinen und schlechter zu lesen sind.
3. Liefer(-Uhr)-Zeit
Die Lieferung kommt offenbar mit der normalen Briefpost. Dies hat den Vorteil, dass es keine Probleme bei der Lieferung gibt. Jedoch wird die Zeitung so lediglich vom Briefträger zugestellt, der abhängig vom Wohngebiet auch gern später kommt. Im Test war dies über mehrere Tage zwischen zehn und elf Uhr der Fall. In der Woche wünscht man sich hier wie bei der normalen Tageszeitung eine Zustellzeit vor acht Uhr, um das tagesaktuelle Exemplar morgens mitnehmen zu können.
4. Bezahlsystem
niiu setzt auf ein Punktesystem. Der Nutzer kauft Punkte, die dann auf Lieferungen umgerechnet werden. Es ist nicht klar, warum nicht einfach der Preis von einem in Euro geführten Guthabenkonto abgebucht wird. Punkte- und Credits-Bezahlsysteme sind schon immer für den Kunden verwirrend, da er gezwungen ist, in zwei Währungen zu rechnen. Selbst wenn niiu weitere Produkte, wie eine reine E-Paper-Ausgabe einführt, kann auch diese in Europreisen abgerechnet werden. Unklar ist auch, warum dem Kunden auch beim Einzahlen eines größeren Volumens kein Rabatt eingeräumt wird – hier fehlt schlicht der finanzielle Anreiz, sich länger binden.
5. Auf der Zeitung Klicken?
Die Übernahme der Online-Artikel aus Blogs erscheint teilweise etwas holprig, wenn aus gerechnet in der Print-Ausgabe noch “Download” und “Fan werden bei Facebook” steht. Das ist zwar ein lustiger Brecht’scher V-Effekt, er nimmt aber unnötig Platz weg und lässt den Online-Bereich zuweilen etwas unprofessionell wirken.
6. Mut zum Dossier
Die aktuelle Aufmachung der niiu als Zeitung liegt nahe. Das Design wird vertraut, leidet jedoch etwas unter der sehr modernen Farbgebung und Logogestaltung. Das Bild des Tages auf der ersten Seite betont zusätzlich den Zeitungscharakter der niiu. Doch niiu ist keine Zeitung und sollte vielleicht entschiedener an das Thema herangehen: Entweder man entscheidet sich für ein klassisches Zeitungsdesign und rückt ab vom modernen “niiu”-Aqua-Stil oder man versucht auf dem Umschlag-Blatt nicht mehr das Nachzuahmen, was man eigentlich gerade dekonstruiert und stellt sich bewusst als Tages-Dossier mit minimaler Gestaltung dar.
Zusammenfassung
“niiu” ist sicher nicht der erste Versuch dieser Art, aber gerade im Berliner Raum zum Greifen nahe. Preis und Zeitungsauswahl sind annehmbar, aber einige Hürden müssen noch genommen werden, um einen gewissen Grad an Seriösität auszustrahlen, der den Griff zur Geldbörse nahelegt. Die Hürden sind schaffbar, sichtbar, aber sie müssen eben genommen werden.
[Aktualisierung]
14. September 2010:
Der Anmelde-Bestätigung habe ich noch folgenden Text entnommen:
Die erste von 12 kostenlosen niius erhältst Du in den nächsten Tagen direkt in Deinen Briefkasten – geliefert von der Deutschen Post. Wenn Dir Deine niiu so gut gefällt, dass Du nach den Testwochen nicht mehr auf sie verzichten möchtest, übernimmt unser eigener Zustellservice die tägliche Lieferung – jeden Morgen bis spätestens 08.00 Uhr.
Damit sollte wohl das Uhrzeit-Problem gelöst sein. Bedauerlich nur, dass man dies nicht auch schon vorab testen kann.
[…] ich vor wenigen Tagen erst den individualiserten Zeitungsdruck von niiu.de in einem längeren Test besprochen habe und weiterhin gern meine tägliche Zeitungs-Zusammenstellung per Post erhalte, musste ich heute […]