Da stolpert man über eine Passage aus Walter Benjamins Aufsatz “Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit
“Jeder heutige Mensch kann einen Anspruch vorbringen, gefilmt zu werden. Diesen Anspruch verdeutlicht am besten ein Blick auf die geschichtliche Situation des heutigen Schrifttums. Jahrhunderte lang lagen im Schrifttum die Dinge so, daß einer geringen Zahl von Schreibenden eine vieltausendfache Zahl von Lesenden gegenüberstand. Darum trat gegen Ende des vorigen Jahrhunderts ein Wandel ein. Mit der wachsenden Ausdehnung der Presse, die immer neue politische, religiöse, wissenschaftliche, berufliche, lokale Organe der Leserschaft zur Verfügung stellte, gerieten immer größere Teile der Leserschaft – zunächst fallweise – unter die Schreibenden. Es begann damit, daß die Tagespresse ihnen ihren >>Briefkasten<< eröffnete, und es liegt heute so, daß es kaum einen im Arbeitsprozeß stehenden Europäer gibt, der nicht grundsätzlich irgendwo Gelegenheit zur Publikation einer Arbeitserfahrung, einer Beschwerde, einer Reportage oder dergleichen finden könnte. Damit ist die Unterscheidung zwischen Autor und Publikum im Begriff, ihren grundsätzlichen Charakter zu verlieren. Der Lesende ist jederzeit bereit, ein Schreibender zu werden.”
Zu entnehmen ist diesem Zitat unter anderem:
- Bereits in den Dreißiger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts beobachtet Benjamin einen Wechsel zum Filmen des “heutigen Menschen”. Noch vor dem Durchbruch des Fernsehens gab es also bereits einen Diskurs über das Eindringen des “unprofessionellen” in die Filmproduktion.
- Zur Erläuterung seiner These zieht Benjamin die Schriftkultur heran. Der Wandel vollzog sich nach Benjamin also erst in der Schrift, dann im Film – aus heutiger Sicht sicher nicht verwunderlich, aber ähnlich.
- Als Beispiel für den Wechsel der Schriftkultur hin zum Rollenwechsel Lesender-Schreibender führt Benjamin ausgerechnet die Presse an, die heute immer wieder als das Medium dargestellt wird, dass der schreibenden Leserschaft gegenübersteht.
- Benjamin verweist (auch in der Folge des Zitats) auf den aus seiner Arbeit heraus schreibenden Experten. Dem Lesenden wird also eine Experten-Autorschaft unterstellt, die seinen eigenen Bereich betreffen, also den, in dem er Experte ist.
Diese Punkte lassen sich teils doch recht frappierend auf die aktuelle bzw. mittlerweile fast überholte Diskussion über den Wandel durch nutzergenerierte Inhalte (um den Term “user generated content” zu vermieden), selbstproduzierte Videos, die Schwemme an Weblogs usw. übertragen und zeigt, dass dieser Diskurs bereits geführt wurde, aber auch, dass unsere heutige Wahrnehmung vom schreibenden Leser sich stark verändert hat, da die Presse kaum im Einundzwanzigsten Jahrhundert zu dieser Kategorie gezählt wird.
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