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Caspar C. Mierau arbeitet als technischer Berater und denkt als Medienwissenschaftler, der zur Computergeschichte promoviert, über die Geschichte und Gegenwart von Technologie nach. Er schreibt und podcastet an der Schnittstelle von Praxis und Theorie, Technik und Kultur. Notiert kurze Gedanken auf Mastodon. Hat "Leitmedium" ganz offiziell als Künstlername im Ausweis stehen.

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Der Politikroboter: Wie Merkel mit den Folgen ihrer eigenen Flüchtlingspolitik überfordert war

16. Juli 2015 by leitmedium

Vor ein paar Tagen wurde das Merkel-Interview von LeFloid breit diskutiert. Klar war: LeFloid konnte Bundeskanzlerin Merkel nicht aus der Reserve locken – für einige eine Enttäuschung, für andere nicht. Gerade geht ein kurzes Video rum, dass in nur wenigen Sekunden zeigt, wie auch die Kanzlerin überfordert sein kann und kurz die hässliche Seite der CDU-Flüchtlingspolitik in ihrer ganzen Härte zeigt. In einem Gespräch mit Schülern erklärt Angela Merkel einem palästinensischen Mädchen, warum “manche auch wieder zurückgehen müssen”. Wenig später weint das Mädchen und Merkel ist sichtlich überfordert – mit den Folgen ihrer eigenen Politik.

Es ist eine bedrückende Szene. Und das erste Mal, dass ich Kanzlerin Merkel überfordert sehe. Sie wirkt wie ein Emotions-armer Politikroboter, der sichtlich Schwierigkeiten hat, Trost zu spenden. Schade, dass erst Tränen vor der Kamera fließen müssen, um PolitikerInnen mit Folgen der Asylpolitik zu konfrontieren.

Ich habe das Gespräch kurz verschriftlicht (Zugänglichkeit und so. Einige Textstellen habe ich um Füllwörter für eine bessere Lesbarkeit gekürzt):

Mädchen: Ich habe ja auch Ziele wie jeder andere. Ich möchte studieren. Das ist wirklich ein Wunsch und ein Ziel, dass ich gerne schaffen möchte. Es ist wirklich sehr unangenehm zuzusehen, wie andere wirklich das Leben genießen können und man selber halt nicht mitgenießen kann.

Merkel: Ich verstehe das und dennoch muss ich jetzt auch … Politik ist manchmal hart … Wenn Du jetzt vor mir stehst … Du bist ja ein unheimlich sympathischer Mensch … Du weißt auch, in den palästinensischen Flüchtlingslagern im Libanon gibt es noch tausende und tausende. Wenn wir jetzt sagen “Ihr könnt alle kommen”, und “Ihr könnt alle aus Afrika kommen” und “Ihr könnt alle kommen”, das können wir auch nicht schaffen. Da sind wir jetzt in diesem Zwiespalt. Die einzige Antwort, die wir sagen, ist: Bloß nicht, dass es so lange dauert, bis die Sachen entschieden sind. Aber es werden manche auch wieder zurückgehen müssen.

*wenig später weint das Mädchen*

Merkel: Du hast das doch prima gemacht.

Moderator: Ich glaube nicht, Frau Bundeskanzlerin, dass es da ums prima machen geht, sondern dass es natürlich eine sehr belastende Situation ist.

Merkel: Dass weiß ich, dass das eine belastende Situation ist. Deswegen möchte ich sie trotzdem einmal streicheln, weil wir Euch ja nicht in solche Situationen bringen wollen und weil Du es ja auch schwer hast, weil Du es ja auch ganz toll dargestellt hast für viele viele andere, in welche Situation man kommen kann. … Ja?!

Update:

Auf »Indiskretion Ehrensache« weist Thomas Knüwer noch darauf hin, wie das Presseteam von Merkel die Angelegenheit aufarbeitet.

Jonas Jansen weist für (Triggerwarnung) die FAZ noch mal zurecht darauf hin, dass das Video ursprünglich länger ist und die obige Version auf den Punkt geschnitten ist. Ich bleibe inhaltlich aber bei meiner ursprünglichen Einschätzung.

Richard Gutjahr hat dokumentiert, wie die Presseabteilung von Merkel den Text nachträglich anpasst.

Twitter-NutzerIn @SunnyZitrone hat ein englisches Transskript erstellt.

Julia Schramm hat das Merkel Blog kurz aus der Sommerpause genommen und einige interessante Bemerkungen auf Twitter veröffentlicht.

Unter #merkelstreichelt gibt es ein aktives Hashtag zum Thema.

Filed Under: Allgemein

Comments

  1. ★ weezerle ★ says

    16. Juli 2015 at 10:19

    @leitmedium die Szene aus der Wahlarena zum Adoptionsrecht gleichgeschlicher Partner ist sehr ähnlich: youtube.com/watch?v=_ERfnT…

  2. Karsten Heymann says

    16. Juli 2015 at 10:20

    @leitmedium Das letzte “Mädchen” soll vermutlich “Merkel” heißen?

  3. leitmedium says

    16. Juli 2015 at 10:21

    @kasimon danke!

  4. Kai Denker says

    16. Juli 2015 at 10:21

    @weezerle @leitmedium #merkelstreichelt sich den Bauch? 😛

  5. axel wallrabenstein says

    16. Juli 2015 at 10:22

    @leitmedium ich glaube ja, daß roboter die art von journalisten sind die es immer! besser wissen und können – in der theorie. praktisch…

  6. Daniel Holbach says

    16. Juli 2015 at 10:35

    Danke für’s finden, schreiben und teilen.

  7. Nik says

    16. Juli 2015 at 10:35

    @leitmedium Das Mädchen heißt Reem. focus.de/politik/deutsc…

  8. leitmedium says

    16. Juli 2015 at 10:36

    @elefantenruesel Danke. Warum auch immer der Focus darauf hinweisen muss, dass das Mädchen „hübsch“ ist :/

  9. Nik says

    16. Juli 2015 at 10:37

    @leitmedium Urgh. Echt? Sorry, hab ich überlesen. :/

  10. Sanna says

    16. Juli 2015 at 12:16

    The transcript in English (if helpful as a comment, sonst gerne anders in den Artikel einbauen, weitergeben o.ä.)

    Girl (Reem): I have goals, you know, like everybody else. I want to go to university. That is really my goal and my wish, and I really want to succeed. It’s really very painful to see how others can enjoy their lives and you yourself can’t enjoy it together with them.

    Merkel: I understand this and nonetheless I have to… Sometimes, politics is tough… Now that you’re standing in front of me… You’re a very likeable person… But you know as well, that in the Palestinian refugee camps in Lebanon, there are thousands and thousands more. Now if we said, “You can all come here”, and “You can all come here from Africa”, and “You can ALL come here”, we can’t make it either. Now, we are having this dilemma. The only answer we can give is this: To make sure that it doesn’t take as long until a decision is made. But some will have to go back.

    *Merkel keeps talking*

    *soon after, the girl starts crying*

    *Merkel notices the girl crying*

    Merkel: Oh… You did such a good job.

    Presenter: I don’t think, Madame Chancellor, that this is about doing a good job, but this is a very straining situation.

    Merkel: I know it’s a straining situation. And I still want to caress her, because I… because we don’t want to bring you into this kind of situation and because you’re having a tough time, because you presented very well to many, many others into what kind of situation one can get… right?!

  11. ◐ Benedict says

    16. Juli 2015 at 13:42

    @leitmedium Aber schöne Reaktion vom Moderator, in der Situation und gegenüber Merkel.

  12. Lars Mensel says

    16. Juli 2015 at 15:08

    @leitmedium Guter Artikel! Technische Frage: Wie ermöglichst du die Kommentierung unterm Artikel „via Twitter/FB“. Teil von Genesis?

  13. leitmedium says

    16. Juli 2015 at 15:09

    @mensel komplexes Thema: Indieweb indiewebify.me – habe ich bei @diplix gesehen. Bin noch in der Experimentierphase.

  14. Lars Mensel says

    16. Juli 2015 at 15:11

    @leitmedium Danke! Schaue es mir mal an, das ergibt schwer Sinn.

  15. wool says

    17. Juli 2015 at 10:08

    Ich mag die Merkel (bzw. ihren Parteienklüngel) auch nicht besonders.
    Schön zu sehen, dass ein Politiker mal die Nebenwirkungen seiner eigenen Medizin aushalten muss.

    Andererseits, wenn man mal drüber nachdenkt: Wer von den schadenfrohen, hämischen und sonstigen Kommentatoren kann mir – nachdem er sein Gemütchen etwas abgekühlt hat – eine Lösung anbieten?
    Im Endeffekt ist es ein reines und vor allem sinnloses Gelaber was hierüber stattfindet.
    Mal ehrlich: Wer von UNS will denn bitte ALLE Flüchtlinge aufnehmen?
    “DU”? Wirklich? Sicher, dass du nicht auch schon mal gefragt hast: “Wer soll das bezahlen?”, “Warum sollen WIR das alles bezahlen?” oder “DIE kommen her und was dann?” ?
    Im Endeffekt sollen die “Einwanderungs-” und “Asyl-Gesetze” ein Minimum an Genaustausch und sozialer Kompetenz realisieren und vor allem UNSEREN Lebensstandard schützen.

    Mich würde interessieren wie WIR in der Situation reagiert hätten?
    Das Pseudo-Mitleid gegenüber dem Mädchen hilft ihr bestimmt nicht.

    IMHO… und nein ich hab auch keine Lösung… aber Shitstorms helfen hier ganz sicher nicht…

Trackbacks

  1. vcjk sagt:
    17. Juli 2015 um 0:35

    http://www.newstatesman.com/world-affairs/2015/07/yanis-varoufakis-full-transcript-our-battle-save-greece
    Ich finde Varoufakis ja den glaubwürdigsten Player in der ganzen Geschichte. Von deutschen Politikern habe ich außer Phrasen (“Hausaufgaben machen”) nichts gehört, und die deutschen Medien waren sich nicht zu schade, ihre Berichterstattung auf diese “Er sagt, sie sagt”-Geschichten und Erklärbären-Artikel à la “Was bedeutet <Stichwort, das von einem Politiker genannt wurde> für Deutschland/Griechenland?” zu beschränken. In der rühmlichen Ausnahme, die tatsächlich einmal auf einem Dokument aus den Verhandlungen basiert, kann man dann lesen, wie wenig die Aussagen der Politiker mit dem tatsächlichen Stand der Verhandlungen korrelieren.
    http://www.indiskretionehrensache.de/2015/07/angela-merkel-fluechtling/
    Das Video macht schlechte Laune, und Thomas Knüwer trifft den Punkt mE sehr gut.
    Caspar C. Mierau setzt bei seiner Kritik einen anderen Schwerpunkt und titelt […] Wie Merkel mit den Folgen ihrer eigenen Flüchtlingspolitik überfordert war. Das ist aber mE aber nicht das Besondere an diesem Fall: Die Politik wird ja meist dann gebraucht, wenn Personengruppen entgegengesetzte Interesse haben, und die Konstellation, dass ein Politiker auf ein Opfer seiner Politik trifft, kann sich immer ergeben.
    Man stelle sich vor, Jan van Aken würde einem Arbeiter bei Heckler & Koch erklären, dass die Bundesregierung sich nicht mehr blind und taub stellt wenn Exportbeschränkungen verletzt werden, und dass er nun im Schutz einer Auffanggesellschaft 12 Monate Zeit bekommt, sich einen anderen Job zu suchen. Oder Renate Künast würde auf einen Eigenheimbesitzer treffen, dessen Blick aus dem Wohnzimmerfenster zukünftig auf einen Windpark trifft (“Mein ganzes Vermögen für ein Haus, das jetzt nur noch die Hälfte wert ist!”). Nicht minder herzzerreißende Szenen wären die Folge, und mit Sicherheit würden die Politiker die Talkshow nicht ohne Blessuren verlassen.
    UNSERE SCHÖNEN DEUTSCHEN EUROS – Our precious German Euros EUROPA 2015
    Ich finde Jan Böhmermann zur Zeit die interessanteste Figur im deutschen Fernsehen.
    Bei Joko & Klaas bin ich mir noch nicht so sicher. Die haben ein gutes Gespür für den Trash und treiben das mit einer guten Portion Selbstironie auf die Spitze (wie im Video oben: “Das Tatar nehme ich noch .. ach, das ist für Hunde. Egal, machen Sie die Hälfte.”). Dazu passt auch, dass sie gelegentlich in dämlichen Werbespots auftreten. Aber der Durchbruch fehlt aus meiner Sicht noch.
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