Nach mehrjähriger Eltern-Pause war ich über den Jahreswechsel endlich mal wieder auf dem Chaos-Congress in Hamburg. Und während eine Diskussion läuft, ob, und wenn ja, warum der Congress weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden hat und wie relevant er damit gesellschaftlich ist, war mein Highlight der Veranstaltung auch kein Talk oder anderweitig weltbewegendes Thema, sondern ein wuseliger Stand hinten rechts im Erdgeschoss. Er versuchte auch nicht, politische Aussagen zu treffen, Gesellschaft und Technologie zu kritisieren oder andere Impulse zu geben, sondern war kleine Liebeserklärung an Postsysteme: Der Stand der Chaos Post.
Kurze Geschichte des Pesthörnchens
Dabei soll “die Post” nicht unbedingt mit “die Deutsche Post” gleichgesetzt werden, wenn auch der CCC sich schon immer an ihr abarbeitet, wie eine kurze Geschichte des nicht selten als semioffizielles Logo des Clubs missinterpretierte “Pesthörnchen” zeigt. Das stammt der autobiographisch notierten Anekdote nach von Rainer Schrutzki, der an der Gründung des CCC e.V. und des FoeBuD e.V. in den 1980er Jahren beteiligt war. Als 1989 die erste Postreform die Deutsche Bundespost zur Steigerung der Effizienz in die drei öffentlichen Unternehmen Postdienst, Postbank und Telekom unterteilte, stieß das sich abzeichnende, profitorientierte Optimierungsgebahren der Post auf wenig Gegenliebe. Es wurde bereits festgestellt, dass eine Logo-Änderung aus dem Jahr 1979 bereits die (als Geschwindigkeit interpretierbaren) Blitze zu (eher beschwerenden) Kordeln geworden seien, wie eine kurze Logo-Geschichte der Post zeigt:
Jedenfalls notiert Schrutzki, padeluun habe 1990 angeregt, dem Logo der Deutschen Post »vielleicht gekreuzte Knochen darunter« zu verpassen und so entstand im Umfeld von FoeBuD und CCC das Symbol, das sich verselbständigte, und von der Deutschen Post wohl erwartbar unentspannt aufgenommen wurde, heute aber vielfach auf Aufklebern und anderen CCC-nahen Devotionalien zu sehen ist.
Doch spulen wir reichliche zwei Jahrzehnte vor. Die Deutsche Post ist nur noch eine für den Deutschen Markt eingetragene Marke des internationalen Unternehmens DHL Group, es wird eine seltenere und langsamere Zustellung der Briefpost diskutiert und man kann generell festhalten, dass das Unbehagen der 1990er Jahre mit der “Optimierung” der Post durchaus seine Berechtigung hatte, wenn man denn einen gewissen Faible für das Postsystem hat. Und das, ich muss es kurz einschieben, habe ich selbst durchaus. Ich habe Medienkultur in Weimar studiert. Eines der Lieblingsthemen der Fakultät waren Postsysteme. Ihre Geschichten sind illuster genug, um sie auch heute noch zu erzählen und zu erforschen, und ihre Bedeutung geht über den Transport hinaus. Autoren wie Franz Kafka waren ganz vernarrt in das Postsystem und verbrachten einen nicht unerheblichen Teil ihres Lebens mit der Erkundung der Zustellwege, um die Liebespost nicht unkontrolliert zu lassen. Um so mehr Postliebe also, wenn man auf einem Congress ein funktioniertes und nicht wenig komplexes Postsystem vorfindet.
Kurze Geschichte der Chaos Post
Dabei ist die Chaos Post keine neue Einrichtung auf dem 37C3, sondern besteht seit 2017. In einer kurzen Chronik dazu wird der Impuls zur ersten Chaos Post wie folgt beschrieben:
Es begab sich, dass Nick Farr dem Congress beiwohnte noch unter dem Eindruck des Burning Man. Er hatte diese Idee im Kopf, dass man anderen Teilnehmern auf dem Event physikalische Nachrichten schreiben könnte. Und einige von uns fanden diese Idee spannend genug um direkt mitzumachen. Auf ein paar übrigen Tischen direkt hinter der c-base haben wir aus alten Kisten, Filz und Gedöns das erste Postoffice zusammengezimmert. Und wie das auf solchen Veranstaltungen so ist, findet sich innerhalb kürzester Zeit weiteres Equipment wie beispielsweise Schreibmaschinen, Postkarten, Stifte und Stempel ein. Was man davon hat, eine Karte an wildfremde Menschen zuzustellen, diese Frage stellt sich den wenigsten die mitmachten. Für alle war und ist es ganz offensichtlich, dass man durch das Austragen der Post, egal ob man eine oder gleich ein Dutzend Karten übernimmt, jede Menge neue Leute und Ecken kennen lernt, die man sonst so sicher nicht zu Gesicht bekommen hätte. Jeden Tag erreichte uns positives Feedback, und am zweiten oder dritten Tag wurde bereits der Wunsch an uns herangetragen wurde, auch der Oma eine Karte schreiben zu können. Nun, warum nicht lautet erneut die Antwort. So kam es, dass wir am Ende des 34c3 mit den erhaltenen Spenden die Kioske des gegenübergelegenen Globus leer gekauft hatten. Also in Bezug auf 45 Cent Briefmarken, die damaligen Postwertzeichen für Postkarten innerhalb Deutschlands und 90 Cent für Internationale Grüße. Bis zum nächsten Kongress hat sich eine Mailingliste etabliert, eine Website wurde erstellt, und die Chaos Post hat sich formiert. Es wurde Brüderschaft geschlossen mit dem Postmaster der Niederländer und weitere Ideen u.a. für online Services nahmen Gestalt an.
Quelle: »Die Chaos Post History«, erreichbar über eine schlecht verlinkbare Unterseite der Chaos Post
Ich konnte nun nichts auf die Schnelle zu einem Post-System auf dem Burning Man Festival finden. Eventuell ging es hier auch nur um die Übertragung des positiven Kontakts zu fremden Menschen. In jedem Fall gründet die Chaos Post anekdotisch auf der spontanen Idee, in Anlehnung an das Burning Man Festival Menschen auf einer Veranstaltung zu verbinden, in dem Post ausgetragen wird. Es geht hier also nicht nur um die Post an sich, also die zugestellten Artefakte, sondern das System als Ganzes. Die Verbindungslinien zwischen schreibender und empfangender Person sind Teil des Konzepts.
Nun war ich mit einem meiner Kinder auf dem Congress. Mit elf Jahren nimmt man noch nicht jeden Talk mit, die blinkenden Säle sind spannender und die unzähligen Stickerboxen. Wir befanden uns also drei Tage auf einer Loot-Tour durch den Congress. Die Chaos Post erfüllte dabei eine besondere Funktion und war durch ihre nun siebenjährige Geschichte bereits recht ausgereift.
»Dienstleistungen« der Chaos Post
Zusammengefasst bietet die Chaos Post mittlerweile folgende »Dienstleistungen«:
- ein großes Angebot kostenloser Postkarten mit diversen “Chaos”-bezogenen Motiven
- kostenloser Versand der Postkarten mit vier verschiedenen auswählbaren Chaos-Motiv-Briefmarken ins deutsche Postbriefnetz
- Versand von Postkarten innerhalb des Congresses
- Versand von Postkarten mit ausgedruckten Nachrichten von außerhalb des Congresses über eine Webseite an Teilnehmer:innen des Congresses
- Angebot von mehren Tischen mit Stiften, Stempeln und Schreibmaschinen zum Schreiben und Gestalten der Postkarten
- eine kurzweilige Schnitzeljagd für Kinder ausgehend von der Chaospost
Unser gemeinsamer Einstieg war die “Rallye” Schnitzeljagd. Man bekommt eine Postkarte, auf der mehrere Aufgaben notiert sind, wie das Auffinden bestimmter Stationen auf dem Gelände, das Gestalten der Karte, aber auch das Zustellen von Post an Fremde. Dafür erhält man im einfachen Level eine Postkarte mit einer Anweisung wie “Stelle diese Karte an eine Person, die 100 Schritte entfernt ist” zu. Wir haben die Grußkarte einer helfenden Hand am Einlass zugestellt und mussten etwas aufwändig auf Englisch und Spanisch erklären, warum wir dies tun, was letztlich durchaus zu einem freundlichen Kontakt führte. Das hat dem Kind so viel Spaß gemacht, dass es sich danach einen Stapel Post hat geben lassen, die an Telefonnummern zugestellt werden müssen. Chaosveranstaltungen haben in der Regel ein eigenes Telefonnetz, bei dem Teilnehmer:innen ihre eigenen Telefone mitbringen und mit einer Durchwahl erreichbar sind. Die Postkarten sind entsprechend an Adressen wie “4837” adressiert. Man ruft die Nummer also an, erreicht eine wildfremde Person, erklärt, dass man eine Postkarte zustellen möchte, und verabredet sich für die Übergabe. Das klappt mal gut, mal weniger gut und mal gar nicht und man scheitert an Problemen wie dauerbesetzter Telefonnummern, Zahlendrehern oder toten Leitungen. Dabei ist, so rein medientheoretisch, genau diese Dysfunktionalität der Reiz des Systems.
Die zustellbare Post stammt aus verschiedenen Quellen. Am Stand der Chaos Post können Karten per Hand, Schreibmaschine, mit Stiften und Stempeln geschrieben und adressiert werden. Aus dem Internet ist der Versand an Kongressteilnehmer:innen auch möglich – scheinbar auch mit einem Tracking (siehe Screenshot). Hierfür werden kleine Thermopapier-Stücke ausgedruckt und auf Postkarten geklebt, die dann zugestellt werden müssen, was natürlich auch zu sinnlosen Karten führt, die teils in Stapeln überreicht werden, was mit stoischer Geduld angegangen wird.
Der Versand vom Congress nach außen gestaltet sich recht einfach und nahezu unspektakulär: Man wählt eine der vielen (kostenlosen) Postkarten aus, beschreibt, gestaltet und adressiert sie und kann aus einer von vier Chaos-Motiv-Briefmarken auswählen, mit denen diese dann frankiert werden. Auch wenn das ein schöner Service ist, liegt das Besondere der Chaos Post gerade nicht in dieser ganz traditionellen Leistung, denn was wegfällt, ist das spielerische Moment, bei dem ein Postsystem erschaffen und getestet werden kann und dabei ins Soziale einzubrechen. Dennoch macht es durchaus Spaß, Post zu versenden, und nicht nur wenige Eltern habe ich an den Tischen gesehen, die mit ihren Kindern Post an die Verwandten schrieben. Wir haben uns unter anderem Post nach Hause geschickt: Sie war am nächsten Tag im Briefkasten.
Doch noch einmal zurück zum spielerischen Moment der Chaos Post und warum es schwer ist, sie hier umfassend darzustellen: Viele Ideen und Anregungen wurden gesammelt und wie eine Art Meditation über die Post zusammengestellt und präsentiert. Es gibt ein kleines System für Flaschenpost auf dem Congress
Man wird angeregt, mit Steganographie, also dem Verstecken von Nachrichten, zu experimentieren:
… und nicht zuletzt gibt es funktionierende Schreibmaschine, die gern genutzt werden, um mit dem beruhigenden mechanischen Klackern die leicht ausgefransten Buchstaben auf Postkarten zu befördern:
Stempel, Düfte für Liebespost, Aufkleber, Farben, Dutzende Postkartenmotive. Vielleicht gibt es irgendwann ein Dokumentationsvideo, das etwas ausführlicher die Chaos Post beschreibt. Was sich hier quasi geschichtlich verdreht hat, ist das Verhältnis des Chaos Clubs zur Post. Während die Deutsche Post nur noch als eingetragene Marke existiert und ihre Dienstleistungen immer weiter zurückfährt, tritt die Chaos Post als anachronistisch experimentelle Post auf und reenacted das Postsystem mit allen seinen Facetten, um dabei soziale Kontakte zu fördern, aber auch das Verständnis eines Systems zur Zustellung von Post nach innen und außen. Ich hoffe, dass die Chaos Post noch weiter erhalten bleibt, und für mich war sie der eigentliche Höhepunkt des Congresses.
Die “Dienstleistungen”, Postkarten, Briefmarken und Materialien der Chaos Post werden kostenfrei zur Verfügung gestellt. Es ist natürlich möglich und erwünscht, nach eigenen Möglichkeiten Spenden zu hinterlassen.
p.s.: Etwas stimmt nicht oder fehlt? Schickt mir gern eine Nachricht dazu.
Quellen
- Beitrag von Rainer Schrutzki zum Pesthörnchen, abrufbar im Internet Archive.
- “Unser Lieblings-Blechblasinstrument im Wandel der Zeit”, veröffentlicht auf der Facebook-Seite der Deutschen Post.
- Artikel »Kommen Briefe künftig seltener? Deutsche Post plant Änderung« in der frankfurter rundschau.
- Artikel »Braucht die Post bald länger?« in der frankfurter rundschau.
- Offizielle Webseite der Chaos Post.
Fotonachweis
Bis auf die markierten Screenshots von anderen Webseiten stammen die Fotos von mir und können unter einer CC BY 4.0 Deed Lizenz weiterverwendet werden. Ausgenommen ist ebenso das von Klaus Breyer zur Verfügung gestellte Foto des Postkarten-Standes.
Vor Kurzem fiel mir ein altes Notizbuch in die Hände. Im August 2010 hatte ich einen Eintrag für Ideen zum Chaos Communication Camp 2011 gemacht. Dort steht „Postkarten vom Camp mit Briefmarkenverkauf“. Umgesetzt habe ich es nicht geschafft. Umso erfreuter war ich Jahre später, als ich plötzlich die Chaospost entdeckte, die ebenso diese Idee hatten. Danke für deine Zusammenfassung und die Historie zum Pesthörnchen.