Nachdem ich mich nun viele Jahre mit Computergeschichte beschäftige, bin ich immer weniger ein Freund von den Heldengeschichten, wie sie gern aus der Computerhistorie erzählt werden mit den meist weißen männlichen Akteuren mit ihren vorgeblich aus ihnen allein kommenden genialen Ideen, die die Welt beeinflussen und jahrzehntelang in einer Wiederholungsschleife nacherzählt werden, dabei aber das viel komplexere Feld gesellschaftlicher und technologischer Entwicklungen ausblenden, das sich zwar an Einzelpersonen verdichtet, als Heldengeschichte aber den eigentlichen Diskurs und die vielen Nicht-Held:innen ausblendet, die diese Geschichte erst ermöglichen. Und dennoch gibt es Figuren, deren Schaffen IT-Historie nachhaltig geprägt hat. Einer davon ist nun am 1. Januar gestorben: Niklaus Wirth, wie der Nachfolger auf seinem Lehrstuhl Bertrand Meyer auf Twitter/X mitteilte.
Die ersten Nachrufe auf den Informatiker Niklaus Wirth sind bereits erschienen und können das komplexe Schaffen von Wirth nur anreißen, so das ich an dieser Stelle nur eine Entwicklung herausgreifen möchte, die durch ihre Nicht-Nachhaltigkeit eine gewisse Tragik besitzt und zugleich in Staunen versetzt. Wir übergehen also die Arbeit von Wirth an Programmiersprachen wie ALGOL, Pascal, Modula und die vielen anderen und kleinen Projekte, die er maßgeblich mitprägte und wenden uns nur einem Artefakt zu: Der Computerworkstation Lilith.
Wirth, der in der Schweiz lebte und arbeitete, verbrachte wiederholt mehrere Jahre in den USA. 1976, während eines Sabbaticals am Xerox Palo Alto Research Center, sah er das erste Mal eine “personal work station”. Während bis in die späten 1960er Computer durch ihre Bauweise große Maschinen waren, die in der Regel als Mainframe-Computer nahezu raumfüllend waren oder zumindest große Flächen belegten und Nutzer:innen sich durch Terminals mit ihnen verbanden, arbeitete man in Xerox Parc an einer Maschine, die durch neue, immer stärker verdichtete Schaltkreise, den Computer auf die Größe eines Personal Computers schrumpfen ließen. Dazu wurde die Station mit eigenen Ein- und Ausgabegeräten wie Tastatur, Monitor und einer bis dahin weitgehend ungesehen Maus ausgestattet.
Wirth erkannte die langfristige Tragweite des Konzepts. Zurück in der Schweiz regte er 1977 mangels einer kaufbaren Version an der ETH Zürich ein Forschungsprogramm für eine personal workstation an. Dabei mussten Hardware, Software, Betriebssystem, Compiler und Anwendungen aufeinander abgestimmt werden. Bisherige Software-Paradigmen mussten verworfen werden, da eine Workstation nicht auf der Architektur bisheriger Großrechner basieren konnte. Innerhalb von drei Jahren entstanden die ersten “Lilith” getauften Maschinen. Die offizielle Geschichte hinter dem Namen zeigt dabei eine typische männlich geprägte Anekdote der Computerhistorie, wie ein Interview von 2017 offenbart:
Frage: Mit der „Lilith“ haben Sie einen der ersten Personal Computer entwickelt. Warum heißt er so?
Quelle: Interview »Von der erzieherischen Rolle der Programmiersprachen«, geführt von Romy Müller für das “ad astra” Magazin der Univsität Klagenfurt, veröffentlicht am 5. Oktober 2017
Wirth: Lilith war die erste Frau von Adam. Er hat sie in die Wüste geschickt, weil sie eigene Ideen hatte und sich emanzipierte. Danach hat er dann Eva kreiert. Lilith ist dann nachts meist als Furie wieder aus der Wüste gekommen, um Kinder zu fressen und Männer zu verführen. An der ETH Zürich, an der ich damals arbeitete, sind meine Mitarbeiter ganz unüblicherweise nach dem Abendessen zurückgekommen, um weiter an der Lilith zu arbeiten. Sie hat sie verführt. Deshalb habe ich sie so genannt. Das war eine sehr beflügelnde Zeit damals.
Sei es drum. Es wurden um die 120 Geräte gebaut, jedoch floppte die kommerzielle Vermarktung. Man hatte zwar eine der frühesten, funktionierenden Workstations überhaupt, die wenig später auch noch mit einem der ersten Laserdrucker ausgestattet wurde, aber die universitäre Nutzung hinaus gelang es nicht, das Gerät großflächig zu verkaufen.
Der Erfolg technologischer Entwicklungen sollte aber nicht nur an ihrem nachhaltigen wirtschaftlichen Erfolg gemessen werden. Lilith hat als real produziertes Konzept zumindest in Europa bereits sehr früh viele Wissenschaftler:innen durch den Ausblick auf neue Möglichkeiten geprägt. Dabei sind es viele kleine Details, die man am Gerät hervorheben könnte, wie der Einsatz einer Computermaus bereits 1980, der Einsatz des Texteditors “Dina” und des Zeichenprogramms “Sil”, die von Wirth selbst entwickelt wurden und bereits zu Beginn der 1980er Jahre das Personal Computing am eigenen Schreibtisch ermöglichten – vier bis fünf Jahre bevor vergleichbare kommerzielle Systeme vermarktet wurden.
Und so bleibt bis heute der deutlich messbarere Einfluss Wirths auf Programmiersprachen, deren Erbfolgen sich in unzähligen erzählten Historien über die Jahrzehnte bis zu heutigen Sprachen nachzeichnen. Wenige Lilith-Maschinen stehen in Museen, wo sie konzeptuell überraschend modern wirken.
Für meine eigene Arbeit verwende ich gern den retrospektiven Artikel »A Brief History of Software Engineering«, den Wirth im Februar 2008 veröffentlichte. Er zeichnet mehrere Jahrzehnte Softwareentwicklung und ihrer Methoden nach. Natürlich ist er als teils autobiographischer Text und Quelle aus der sie beschreibenden Umgebung heraus mit Vorsicht zu lesen, gibt aber einen guten Einblick in das Selbstverständnis der frühen Informatik und ihrer klassischen Probleme und Entwicklungen.
Quellen:
- »Summary of projects by N. Wirth, 1962 – 1999« auf der persönlichen Webseite von Niklaus Wirth an der ETH Zürich
- »Niklaus Wirth – Ingenieur und Informatiker« – Beitrag im hervorragenden Blog des Heinz Nixdorf Museums
- Interview mit Niklaus Wirth – einstündiges, spätes Interview mit Wirth, wahrscheinlich aus dem Jahr 2021
- Kurze Überprüfung der Echtheit der Mitteilung über den Tod von Wirth: Bertrand Meyer wird auf der ETH Seite als eremitierter Professor für Software Engineering gelistet, auf seiner persönlichen Universitäts-Seite wird seine eigene Homepage verlinkt, auf der wiederum sein Twitter/X-Profil verlinkt ist, auf der am 3. Januar mitgeteilt wurde: »We lost a titan of programming languages, programming methodology, software engineering and hardware design. Niklaus Wirth passed away on the first of January. We mourn a pioneer, colleague, mentor and friend.«.
- Interview »Von der erzieherischen Rolle der Programmiersprachen«, geführt von Romy Müller für das “ad astra” Magazin der Univsität Klagenfurt, veröffentlicht am 5. Oktober 2017
- die deutsche Wikipedia über Niklaus Wirth und die englische