»Na, Ihr hattet ja nichts, haha!« – wie oft habe ich eigentlich schon diesen Spruch gehört? In den vergangen Monaten definitiv zu oft. Kaum ein Tag verging, an dem ich nicht kurz die Augen zusammenkniff und mir dachte »Ok, es ist nicht so gemeint. Ok, es ist nicht so gemeint. Ok, es ist nicht so gemeint!«. Aber nicht so gemeint ist nunmal die kleine Schwester von blöd und daher nehme ich den heutigen 25. Jahrestag der Deutschen Einheit zum Anlass, um nochmal darauf hinzuweisen: Ihr habt doch keine Ahnung, wovon Ihr da redet.
Wirklich, so einfach ist es: Wer „Ihr hattet ja nichts“ sagt, weiß nicht, wovon er spricht. Die meisten Menschen haben die DDR nie gesehen oder erzählen auf Nachfrage bestenfalls von irgendwelchen Reise-Erlebnissen und erschütternden Erfahrungen, dass es beim Besuch nur eine Sorte Cola gab und die »Zonies« so merkwürdig gekleidet waren. (Habt Ihr mal Filme aus den 80ern gesehen? Wie merkwürdig da alle Menschen aussehen…)
Hospitalisiert im Plattenbau?
Es scheint so ein Bild in den Köpfen zu herrschen, dass die Menschen in der DDR hospitalisiert in ihren Plattenbauwohnungen saßen und tagaus, tagein weinten, weil sie nur auf Weizenkörnern kauen konnten – wenn sie denn welche nach zehn Stunden Anstehen ergatterten. Meine Schwiegereltern bedauerten erst letztens in einem Gespräch, dass wir ja keine Medikamente hatten, »sondern nur Kohle«. Ja, die schwarze, nicht das Geld.
Es wäre eigentlich lustig, wenn es nicht so traurig und lästig wäre. Das beharrliche »Ihr hattet ja nichts« diskreditiert das Leben von Menschen. Es reduziert die Qualität des Lebens-Alltags auf die Beschaffung von Waren, suggeriert, dass ein Mensch eine minderwertige Lebensgeschichte hat und sagt damit wohl mehr über die bedauernde als die bedauerte Person aus.
Geschichte wird geschrieben
Dabei kommen oft genug faktisch falsche Geschichten heraus, die heute geschrieben werden. Das ist bestürzend, denn Geschichte wird nun mal durch Erzählungen gemacht und was gerade erzählt wird, ist teils absurd. Erst kürzlich las ich einen Artikel über DDR-Computergeschichte, der nur so vor Fehlern strotzte. Angeblich waren in der DDR westliche Computer von der politischen Führung verpönt und nur geduldet. Ich fasse kurz zusammen: klingt schlüssig, ist aber falsch. Doch um dieses konkrete Thema soll es nicht gehen. Es zeigt nur, wie eine angenommene Geschichte in der medialen Aufarbeitung landet und damit zum Faktum wird.
Es ist auch eigentlich kein Wunder, dass auch heute noch Ressentiments ein völlig verzerrtes Bild der DDR bestimmen. Jahrzehntelang wurden diese Geschichten von der anderen Seite hinter der Mauer erzählt. Erst vor kurzem habe ich mir eine Folge „Ein Herz und eine Seele“ aus angesehen, in der Besuch aus der „Ostzone“ kommt. Die Folge zeigt treffend, wie sich die DDR-Klischees seit den 1970er Jahren nicht gewandelt haben. Wer heute „Ihr hattet ja nichts“ sagt, ist genau in diesem Jahrzehnt stehengeblieben. Ich hatte ein entsprechendes Erlebnis schon am Tag der Maueröffnung: Ich war elf Jahre und ging mit Verwandten entlang der Brunnenstraße in Berlin und erkundeten neugierig die neue bunte Welt. Eine Frau im Kittel vor einem Supermarkt hielt mich an, gab mir eine Tüte mit Brötchen und sagte “Hier, damit Du was zu essen hast”.
Einfach mal fragen
Und wie kann es weitergehen? Wenn Ihr Sprüche wie „Ihr hattet ja nichts“ bringen wollt, verkneift sie Euch einfach. Fragt doch stattdessen einfach mal, wie es eigentlich so war in dieser fremden DDR und wie es ist, früher in einem anderen Land gelebt zu haben. Es gibt da sicher interessante Geschichten. Vielleicht lernt Ihr ja noch etwas. Und macht nicht den Fehler, anzunehmen, es gäbe die eine Wahrheit. Viele Menschen haben viele verschiedene Geschichten erlebt. Und manchmal stellt sich raus, dass Erfahrungen auf beiden Seiten der Mauer vielleicht doch ähnlicher waren, als angenommen.
p.s.: Dieser Text ist kein Plädoyer für eine revisionistische Sichtweise auf DDR-Geschichte. Die DDR war ein Unrechtsstaat und viele Menschen mussten aus verschiedenen Gründen leiden. Aber es gab auch einen Lebens-Alltag und dieser ist weit entfernt von dem, was heute angenommen wird.
Bildnachweis: Köpenick, Berlin January 1990 von Flickr-Nutzer Sludge G, veröffentlicht unter einer CC-BY-SA-Lizenz (nachbearbeitet).
@leitmedium wo wurde denn das Foto aufgenommen?
@leitmedium Das ist IMHO aber auch eine mem-artige Abwandlung, weil es oft ein »Wir haben ja nix.« von DDR-Besuchern/-Rentern zu hören gab.
Deine Vermutung würde ich teilen – siehe auch:
https://www.youtube.com/watch?v=tykrjt71wJQ
Aber ich kann Caspars Impetus sehr gut nachvollziehen. Es gibt zu viele Negativ-Klisches, die ständig wiederholt werden und nur noch nerven.
@leitmedium Ich kenne das eher von Ostdeutschen („wir hatten ja nichts”). Und Ost-Berliner waren in der DDR schon etwas priviligiert, oder?
@leitmedium Danke.
@leitmedium @kotzend_einhorn Verwechslung. Das war mehr Aussage von denen, die “Nichts” hatten und stammte nicht von denen, die “Was” hatten
@DaphnaDreifuss Moah, ich hatte den Foto-Credit noch nicht drin. Ist nachgetragen im Artikel und hier der Link flic.kr/p/5H1KUa
@leitmedium Was am #tagderdeutscheneinheit der #Worte wert ist als #Liebe und #Küsse.
Ost-West-Liebe flaneurgedichte.blogspot.com/2015/10/ost-we…
An dem Zerrbild haben die Zonis doch selber nicht zu knapp mitgewirkt. DDR-Kaufhaus-Witze à la “Hamse geene Underhosn? – Keene Unterhosen gibts in der zwoten Etage.”wurden meines Wissens eher nicht im Westen erfunden.
Ehrlicherweise muss ich indes zugeben, vom Lebensstandard in der DDR nicht wirklich Ahnung gehabt zu haben.Wir (also meine Familie) hatten “drieben” keine Verwandtschaft, Pakete haben meine Eltern eher nach Polen geschickt, da gab es jedenfalls ein deutliches Wohlstandsgefälle, von Westdeutschland aus gesehen. Irgendwie sind wir auch immer davon ausgegangen, dass es den Leuten in der DDR im Ostblock-Vergleich noch einigermaßen gut gegangen ist, materiell gesehen.
“[…] und sagt damit wohl mehr über die bedauernde als die bedauerte Person aus.”
Zuvorderst über dessen systemisch kapitalistische Sozialisation – da möchte man doch glatt mit historischem Materialismus… Nun ja. Zumindest offenbaren sich Scheuklappen und Bretter vor Köpfen häufig am Besten am Anderen, und wer das einmal erkannt hat, kann wirklich unbefangen, neugierig fragen und lernen.