Leitmedium

Es gibt kein analoges Leben im digitalen.

Caspar C. Mierau arbeitet als technischer Berater und denkt als Medienwissenschaftler, der zur Computergeschichte promoviert, über die Geschichte und Gegenwart von Technologie nach. Er schreibt und podcastet an der Schnittstelle von Praxis und Theorie, Technik und Kultur. Notiert kurze Gedanken auf Mastodon. Hat "Leitmedium" ganz offiziell als Künstlername im Ausweis stehen.

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Technikkritik und Kulturverfall in Deutschland – ein lange Geschichte

5. August 2015 by leitmedium

Kurze Quizfrage: Von wann stammt der folgende Absatz?

»Der in Deutschland seit Nietzsche und Spengler üppig blühenden kulturkritischen Literatur fehlt selten eine gegen die Technik gerichtete polemische Tönung. Man hat dies als Symptom dafür zu nehmen, daß unsere Gesellschaft die innere Auseinandersetzung mit den tiefgreifenden Veränderungen in ihr selbst, wie sie im Zuge der Industrialisierung vor sich gingen, noch nicht beendet hat. In unserer Öffentlichkeit sind angstvolle Vorstellungen vom Ameisenstaat der Zukunft, von Vermassung und drahtloser Lenkung der Gehirne, vom Verlust der Person und vom Verfall der Kultur weit verbreitet, und dabei verweist man die Technik gern in die Rolle des Angeklagten, während doch in den Vereinigten Staaten […] sich dieselbe Technik einer ungemeinen Popularität erfreut. Die weit verbreitete Science-Fiction-Literatur der Amerikaner ergeht sich mit Wonne in technischen Utopien, man findet Vergnügen an den extremsten Vorstellungen wie etwa der, daß die Zeit manipulierbar geworden ist und man sich nun sozialtouristisch in vergangene Epochen begeben kann.«

2015? Nein. 2000? Nein. 1990? Nein … Machen wir es kurz: Die Worte des Anthropologen und Soziologen Arnold Gehlen wurden erstmalig 1957 veröffentlicht. Ich war erstaunt, dass die auch heute in deutschen Feuilletons vorherrschende Technologie-Skepsis und der Unterschied zur US-amerikanischen Tech-Kultur schon in der Mitte des letzten Jahrhunderts so deutlich zu beobachten waren. Auch der damals beklagte Verfall der Kultur dauert nun schon Jahrzehnte.

Eine kurze Zusammenfassung und historische Einordnung zu Gehlens Buch gibt es hier.

Quelle: Arnold Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, Frankfurt 2007. (Erstauflage 1949)

p.s.: Es gibt sicher weit ältere Quellen, die Technik-Kritik und Kulturverfallszenarien belegen. Der Text von Gehlen sticht aber durch eine Lesbarkeit hervor, die ihn teils wie eine aktuelle Analyse wirken lassen.

Filed Under: Allgemein

Comments

  1. muclomo says

    6. August 2015 at 0:14

    Mir ist klar dass man in netzaffin-hippen Kreisen momentan nicht in die USA reist. Wer aber trotzdem schon mal dort war hat erkannt, dass es einen gewaltigen Unterschied zwischen Manhattan / SOHO und Ohio / Pampas gibt. Menschen in den USA sind keineswegs überall technikbegeistert. Und das war 1957 vermutlich auch schon so !