Die Krautreporter sind gestartet. Ich habe einige der Artikel ganz gelesen, andere überflogen. Hier eine kurze, ganz persönliche Blatt-Kritik zu den aktuell für Nicht-Unterstützer lesbaren Artikeln:
- Stefan Niggemeier, Die Wahrheit über die Lügen der Journalisten: Fundiertes Sezieren des Buchs “Gekaufte Journalisten” in typischer Niggemeier Art. Gefällt.
- Christian Fahrenbach, Ein ganzes Land in einer Straße: Klassisches Magazin-Stück mit Sozialstudie anhand Park Avenue in New York. Nett, aber eher Entertainment.
- Stefan Schulz, Eine Sache des Glaubens: Zweitverwertung von Tilo Jungs Israel-Reise. Interview-Zitate werden angereichert mit Hintergrund. Mir zu selbstreferentiell.
- Rico Grimm, Im Theater der Einschüchterung: Selbsterfahrungsgeschichte über Zensur und Polizeidruck. Spannend, muss sich aber den Vorwurf gefallen lassen, den neuen Ich-Journalismus zu bedienen.
- Sebastian Esser, Zeit für Journalismus: Krautreporter-Manifest. Zählt nicht als Artikel.
- Andrea Hanna Hünniger, “Was soll denn passieren? Dass es in einem Jahr keine Bücher mehr gibt?”: Stück über die Probleme der Buchbranche, personalisiert erzählt anhand der Autorin und Buchhandelsvertreterin Dora Heldt. Gut erzählt, aber schon oft ähnlich gelesen.
- Tilo Jung, “Ob etwas schlimm ist, muss jeder subjektiv für sich wahrnehmen”: Verschriftlichung eines jung&naiv-Interviews mit Roland Jahn, Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde. Zugleich Ankündigung, dass jung&naiv jetzt in Kooperation mit Krautreporter für joiz produziert wird. Äh, okay.
- Thomas Wiegold, Die 17 Auslandsmissionen der Bundeswehr: Aufstellung der aktuellen Auslandseinsätze der Bundeswehr mit Zahlen zu eingesetzten Soldaten. Guter Content. Hätte mir nur noch mehr Grafiken zur Übersicht gewünscht.
- Peer Schader, Das Märchen vom Tante-Emma-Laden: Es wird erklärt, warum Edeka eine wachsende Großkette mit Profitorientierung und kein Laden von nebenan ist. Finde ich jetzt als These wenig überraschend.
- Theresa Breuer, Bis zum nächsten Knall: Reportage über die Radikalisierung junger Palästinenser. Zweitverwertung in Kooperation mit Weeklys. Nicht überraschend, aber gutes Langstück (kompletter Text mit Bildern nur für Unterstützer).
- Victoria Schneider, “Niemand will ihnen die Hand geben”: Interview mit Krankenpfleger, der einen Monat im Ebola-Krisengebiet geholfen hat. Interessante Fakten aus erster Hand, jedoch in letzter Zeit viel in anderen Medien ähnliches gelesen.
- Christoph Koch, Medienmenü: Christoph Koch: Betreuer der Rubrik “Medienmenü” stellt seine Lieblingsmedien und seinen Umgang damit vor. Schon oft ähnliches gelesen, sehr selbstreferentielles Medium im Medium.
- Tilo Jung, “Der Himmel bewahre uns davor, dass wir euch Europäer ernst nehmen.”: Und noch eine jung&naiv-Verschriftlichung.
- Victoria Schneider, Mosambiks trauriger Reichtum: Für mich überraschendes Stück über Mosambik. Gefällt, weil das Thema sonst wenig medial präsent ist.
- Thomas Wiegold, Rückkehr zur Abschreckung: Ausführlicher Text zur neuen alten Taktik der NATO. Analysen dieser Art finde ich sehr hilfreich.
- Peer Schader, Der ganze Rummel: Erklärstück, warum Shopping-Center zu Vergnügungsparks werden und zunehmend Platz in Städten belegen. Finde ich ähnlich wenig überraschend wie den Edeka-Text des selben Autors.
- Rico Grimm, Der stille Kampf am Rand der großen Wüste: Spannendes Stück über den langjährigen Kampf um die Westsahara – und die schlechte Rolle, die EU und die restliche Welt darin spielen. Gefällt mir ähnlich wie das Stück über Mosambik.
Mein erster Eindruck des neuen Magazins ist, dass es zuverlässig Seite 3 Artikel und Reportagen liefert. Das jedoch unter Weglassung aller anderen sonst üblichen Kurz-Inhalte. Das finde ich prinzipiell begrüßenswert. Die Qualität der Texte finde ich durchwachsen, da ich viele Inhalte schon an anderen Stellen gelesen habe. Hier frage ich mich noch, inwiefern langfristig die versprochene Revolutionierung des Journalismus stattfinden soll, wenn klassische Verlagshäuser eben doch Inhalte dieser Art produzieren. Dennoch ist die Fokussierung auf solche Texte schön, da man nicht die Textperlen raussuchen muss.
Was mich stört ist das derzeit noch selbstreferentielle: Drei Stücke mit jung&naiv und Inhalte zu und um Medien. Gerade Medien werden im Netz bereits ausreichend thematisiert. Zudem hoffe ich, dass in Zukunft nicht unbedingt der neue “Ich”-Erfahrungs-Journalismus bedient wird, denn den bringen schon die klassischen Magazine (ich mag solche Texte, brauche aber nicht noch mehr davon). Zur Geschlechterverteilung hätte ich mir nach der frühen Kritik mehr erwartet: 13 Texte von Männern, 4 von Frauen – da geht mehr.
Ein lustiges Feature für Nicht-Abonnenten: Sie können die Kommentare nicht sehen. Das finde ich gar nicht schlecht, denn es lenkt noch weniger ab. Mich würden die Kommentare aber dennoch interessieren, ich werde bei einem Unterstützer mal einen Blick drauf werfen. Am Design und der Usability muss noch geschraubt werden, aber das ist kurz nach Start kein richtiger Kritikpunkt.
Insgesamt fühlt sich Krautreporter nicht wie die Neuerfindung des Journalismus, sondern wie ein neuer Lieferant von “long reads” an. Das finde ich gut, bin aber nicht überrascht und fühle mich im Nachgang bestätigt, dass die aggressive Kommunikation im Vorfeld nicht halten konnte, was sie versprach. Ich freue mich, nun auch Journalistinnen wie Astrid Geisler in der Liste zukünftiger SchreiberInnen zu lesen.
[Update]
In der taz zieht man ein ähnliches Fazit:
Es sind vor allem Auslands-, Kriegs- und Krisengeschichten. Die Texte sind gut geschrieben und ordentlich recherchiert. Besonders originell sind sie aber nicht. Viele von ihnen könnten so auch in Zeitungen und Magazinen erscheinen – oder an anderer Stelle im Internet. Und das tun sie zum Teil auch schon, denn nicht alle Formate, die auf krautreporter.de zu finden sind, sind speziell für das Projekt entwickelt.
[…]
Ihren Anspruch, journalistisch zu experimentieren, erfüllen Krautreporter bisher also nicht. Außer in einem Punkt, der aber immerhin wesentlich ist: dem Umgang mit der Crowd.
Auf newsroom.de schreibt Christian Jakubetz:
Die “Krautreporter” haben sich zwar inzwischen ein wenig vom “Wir retten den Journalismus”-Anspruch verabschiedet, die Messlatte liegt dennoch so hoch wie bei keinem anderen journalistischen Neustart dieses Jahres. Gemessen nicht nur am Anspruch, sondern auch an der Tatsache, für dieses Projekt eine Million Euro eingesammelt und etliche bekannte Autoren verpflichtet zu haben, muss man zugestehen: ein Anspruch, der kaum zu erfüllen ist.
So, und jetzt habe ich mich genug gewunden und ausreichend relativiert.
Herausgekommen ist bei den “Krautreportern” eine Webseite mit vielen langen Stücken. Das ist nicht zu kritisieren, sofern man gerne viele lange Stücke auf Webseiten liest.
Nicht herausgekommen ist irgendetwas Überraschendes.