Ich höre gern Stimmen: Beim Rad- und Autofahren genieße ich Hörbücher, manchmal Podcasts, morgens Deutschlandfunk. Stimmen, die ruhig Inhalte vortragen, gern auch komplexere Texte. Was ich dabei immer wieder vermisse, ist die Möglichkeit, längere Blog-Texte und Artikel, die ich online finde, mir vorlesen lassen zu können, wenn ich Zeit dafür habe. Doch was spricht eigentlich dagegen, es selbst in die Hand zu nehmen?
Automatische Text-to-Speech-Systeme sind mittlerweile ganz gut geworden. Selbst die OSX-eigene Stimme kann zum Beispiel mit zwei Klicks im Browser-Fenster einen Artikel zumindest passabel vortragen (so klingt dieser Artikel hier). Die Lösungen sind aber noch immer Meilen davon entfernt, Artikel so vorzulesen, dass man gern öfter darauf zurückkommen möchte. (Ich vermute, derzeit werden sie durch den Uncanney-Valley-Effekt noch einmal unerträglich, bis sie endlich überzeugend genug sind). Es gibt jedoch eine einfache Alternative, dass sie schon wieder abwegig klingt: Das Netz kann sich gegenseitig vorlesen.
Podreading / Audiosharing / Readsharing
Nennen wir das Ganze einfach “Podreading” – in Anlehnung ans Podcasting (oder doch “Audiosharing”? oder Readsharing? Was meint Ihr?). Man nimmt sich einen Text oder Artikel (die Urheberrechtsdebatte vertagen wir auf später und gehen zunächst von entsprechend frei lizensierten Texten aus), spricht ihn in ein Mikro und veröffentlicht die Aufnahme online. Nicht den eigenen Text – das kann man natürlch auch gern tun – nein, einen fremden. Das ist technisch mittlerweile recht einfach: Mit iPhone/Android, evtl. dem mitgelieferten Headset, der Soundcloud– oder Auhponic-App kriegt man schon einfach Ergebnisse hin, ohne das Mobiltelefon auch nur aus der Hand zu legen. Zeitfaktor: Mit etwas Übung 30 Minuten für einen Text.
Hören wir uns drei Beispiele an…
Jens Best liest Sasche Lobo
Als Sascha Lobo vor kurzem einen seiner “Das-Internet-macht-keinen-Spaß-mehr”-Artikel in der gedruckten FAZ platzierte, griff Jens Best zum Mikro und las den Text unvorbereitet vor:
Jürgen Geuter liest Constanze Kurz
Jürgen Geuter hat sich auf meine Bitte ein Interview mit Constanze Kurz vorgenommen (was ob der besetzten Diskursenden von Geuter und Kurz eine lustige Konnotation hatte):
Caspar Clemens Mierau liest Jürgen Geuter
… und ich nehme Jürgen Geuters neue Kolumne “connected” zum Anlass, selbst einmal auszuprobieren, wie schnell das mit dem Vorlesen und Veröffentlichen klappt:
(Fazit: Man hört mich atmen, Zischlaute, die Pausen sind zu lang, aber hey: Für den ersten Versuch doch auch nicht schlecht)
Allen Beispiel ist gemein: Sie sind technisch alles andere als perfekt, sie sind nicht professionell vorgetragen. Und dennoch bieten sie für interessierte Hörer einen Mehrwert.
Warum?
Warum also sollte man Artikel vorlesen und anderen zugänglich machen? Es ist vor allem eines: einfach und zugleich wirkungsvoll. Manchmal möchte ich gern etwas zum Diskurs im Netz beisteuern, fühle mich aber weder in der Lage, einen Artikel zu verfassen, noch habe ich Zeit für eine aufwändige Podcast-Aufnahme. Die Zugänglichmachung von Texten durch Vorlesen ist eine noch unterschätzte digitale Kulturtechnik. Mit “zugänglich” meine ich hier nicht barrierefrei, denn erstens ist eine Datei auf Soundcloud wahrscheinlich noch nicht als barrierefrei zu bezeichnen und es gibt natürlich etliche Screenreader-Apps, die den Nutzer nicht abhängig machen vom guten Willen anderer.
Das Vorlesen kann aber eine Lücke füllen. Mir fällt es manchmal schwer, komplexere Texte am Rechner zu lesen und ich würde es gern auf die Bahnfahrt verschieben – dort aber eben akustisch. Oder man geht einer Tätigkeit nach, könnte zuhören, aber nicht lesen. Das Vorlesen von Texten kann sowohl das zeitlich asynchrone Teilnehmen am Diskurs ermöglichen, als auch die zeitlich nahe Teilnahme an laufenden Diskursen. Durch eine weitere
Zudem empfinde ich persönlich das Vorlesen als eine interessante Form des “flattrns” im Sinne der Bekundung, dass man einen Artikel zumindest für relevant genug hält, ihn auf diese Art hervorzuheben.
Skrupel?
Irgendwer kann immer besser Vorlesen und Aufzeichnen. Machen muss man es letztlich selber. Und ein nicht perfekt aufgzeichneter Text ist besser als keine Aufnahme. Wirklich.
[Update]
Marcus Richter hat das offensichtliche getan und diesen Blog-Post eingesprochen. Schön, ihn mit professioneller Stimme und Equipment zu hören. (Danke!)
Ich habe noch einen weiteren Blog-Post eingesprochen: “Warum ich meine Emails nicht verschlüssele”, von Hans Hübner:
Quellenangabe:
Foto “Vorlesen II” von Jens-Olaf Walter, veröffentlicht unter CC-BY-NC 2.0 (nachbearbeitet).
Anekdote und Hinweis:
Ich las den Text, weil ich parallel mit @PickiHH abends noch versuchte, eine FAS-Ausgabe zu kaufen. Ich bekam noch eine in Berlin, Picki in HH keine. Deswegen beschlossen wir via Twitter, dass ich den Artikel per Chat vorlese. Dies schrieb Picki auf Facebook, worauf andere sagten, dass sie auch zuhören wollten, u.a. Peter Kabel. Damit Nachzügler es auch hören konnten, gab’s die Aufnahme dazu.
Einige Tage später traf ich einige Redakteure der FAZ zu einem anderen Anlass. Sie konnten es sich nicht verkneifen, mir mitzuteilen, dass dies natürlich eine fragwürdige, aber dann doch ausnahmsweise geduldete Nummer war, denn schliesslich werfen auch eingespielte Lesungen von Texten Urheberrechtsfragen auf. #seufz
Aber es hat riesigen Spass gemacht und ich werde es wieder tun. 🙂
Ich darf bei der Gelegenheit noch meine Vertonung des Handelsblatt-Artikels des CDU-Hinterbänkerls Ansgar Heveling empfehlen.
Der Artikel ist Wort für Wort so, wie ich ihn vorlese, zum Start der Printmedien-Kampagne gegen das Netz (LSR, UrhR etc.) im Januar 2012 veröffentlicht worden.
Ich habe versucht der Tonalität des Artikels durch akustische Vortragsformen aus deutschen Geschichte gerecht zu werden, also quasi eine Soundversion von Godwin’s Law.
-> https://soundcloud.com/jensbest/ansgar-heveling-perspektiven
Ich habe das offensichtliche getan und mal deinen Artikel eingelesen.
Wie wäre es noch mit dem Wort Readcast?
Ich habe übrigens so etwas vor Jahren einmal gemacht, leider nur nie weiter verfolgt: asaaki liest manniac, sogar mit Musik im Hintergrund, die viel zu laut ist.
Die Audiobeispiele gefallen mir allesamt sehr gut. Einen gewissen Vorteil sehe ich hier in den tieferen, männlichen Stimmen. Wenn ich etwas einlese, klingt es nach einer Weile piepsig.
Aber das wollte ich gar nicht schreiben. Ich wollte auf die Barrierefreiheit eingehen. In meinem Umfeld häufen sich die Augenleiden – Elterngeneration, Vorgesetzte. Seitdem das Lesen sie anstrengt und sie es mehr und mehr meiden müssen, bietet sich das Vorlesen sowohl eigener als auch fremder Texte via Podcasting an. Ich sehe darin durchaus einen signifikanten Zugewinn in Richtung Barrierefreiheit. Zumal die Technik die menschliche Intonation (noch) nicht 100%ig hinbekommt.
Also, unterstützenswerter Vorschlag. Freue mich darauf, mir in Zukunft mehr Artikel vorlesen lassen zu können, und werde mich auch mal daran probieren. 🙂