Heute hat Jürgen Geuter seine neue Kolumne “connected” gestartet und legt mit “Ein naturalistischer Fehlschluss” einen lesenswerten ersten Beitrag vor. Ausgehend vom viel bejubelten Urteil des Europäischen Gerichtshofs gegen Google wird die Frage aufgeworfen, warum das Physikalische weiterin als Maß für das Digitale gilt:
Viel spannender und auch grundlegender war nämlich ein sehr häufig für das Recht auf Vergessenwerden vorgebrachtes Argument: Dieses neue Recht sei notwendig, weil die ganz natürlich auftretenden Vergessensprozesse in der physischen Welt auch in der Digitalsphäre gegeben sein müssten. So soll das Recht auf Vergessenwerden die Kluft zwischen den digitalen und analogen Welten überbrücken, das Digitale dem Analogen angleichen.
…
Die Ansicht, die physische Welt habe ein Primat über die digitale, ist weder neu noch gesellschaftlich besonders umstritten.
Mich erinnert diese Kritik an einen ähnlichen Punkt, der mich an einem der zentralen Texte Friedrich Kittlers gestört hat: In “Es gibt keine Software” behauptet der Literaturwissenschaftler und, naja, Medientheoretiker Kittler, dass es keine Software gäbe, da letztlich die physikalischen Eigenschaften einer Maschine für deren Funktionen entscheidend sind. Strom fließt, Spannung wird auf- und abgebaut, es rauscht, es wird geheizt und gekühlt.
Auf einer abstrakten Ebene scheint Kittler damit Recht zu haben. Und dennoch fühlt sich diese Sichtweise nicht mehr richtig an. Ich schrieb daher vor einigen Jahren den Gegentext “There is no Hardware . Reanimation durch Emulation” (derzeit nur in einem Sammelband erhältlich), in dem ich anhand von Emulation und Virtualiserung von Hardware eine Lösung der Software von Hardware beschreibe. Das vielschichtige Geflecht von Software-Abstraktionsschichten ist zu komplex, um kausal auf eine einfache physikalische Abhängigkeit zu reduziert zu werden . Selbst bekannte Hardwarefehler werden heute durch Software nachgebildet, wenn dies nötig ist. Hardware kann als Programmcode beschrieben und ausgeführt werden.
Das Primat des Physikalischen kann und sollte nicht mehr aufrecht erhalten werden. Es muss einem Geflecht weichen, dessen Grenzen von Digital und Analog längst verschwommen sind. Und so kann man nur zustimmen, wenn Jürgen Geuter schreibt:
Die beiden Lebenswelten sind nicht mehr getrennt voneinander zu denken. Inhalte im Digitalen haben Konsequenzen im Analogen (wie unser spanischer Kläger am eigenen Leibe erfahren hat) genau wie Handlungen in der Welt aus Atomen massive Auswirkungen auf die digitale Welt haben (ein kaputter Plastikrouter beispielsweise kann Internetnutzenden ganz schön den Tag ruinieren).
Noch kürzer könnte man pointieren:
Es gibt kein analoges Leben im digitalen.
Es ist derselbe Grund, warum ich Studien zu “Wie viel Zeit verbringen Sie online” für falsch halte. Sie übertragen eine online-/offline-Dichytomie aus den 1990ern Jahren auf das Jetzt und zeugen damit höchstens davon, dass ältere Menschen unzeitgemäße Statistiken beauftragen.
Das zugrundeliegende Zitat “Es gibt kein richtiges Leben im falschen” stammt übrigens aus Adornos Minima Moralia. In einem früheren Text-Entwurf hieß es stattdessen: “Es läßt sich privat nicht mehr richtig leben.”:
Blättert man im Adorno-Archiv in den immer wieder korrigierten Typoskripten derMinima Moralia, in denen dieser Satz seine Wohnstatt hat, dann stößt man tatsächlich irgendwann auf einen Vorläufersatz. Einen Satz, der durchgestrichen wurde und an dessen Stelle sich „Es gibt kein …“ gedrängt hat. Und man reibt sich die Augen. Dort steht doch tatsächlich: „Es läßt sich privat nicht mehr richtig leben.“1 Ja, darf das denn wahr sein? Partikularinteresse statt Gesellschaftsdiagnose? Nostalgische Klage statt Anklage? Muss das denn sein, muss sich auch hier wieder sofort die typische Adorno-Enttäuschung einschleichen, dass sich hinter dem so beeindruckend asketisch negativ gedachten, utopischen Zustand am Ende doch wieder nur ein längst vergangenes Konzept von bürgerlicher Privatheit verbirgt?
(Auch wenn es jetzt etwas aus dem Zusammenhang gerissen war: Einen kleinen Schwenk zur (Post-)Privatsphäre nehme ich da gern mit.)
p.s.: Jetzt wurde ich freundlich drauf hingewiesen, wo ich den Satz zuerst gelesen habe: Im einleitenden Kapitel von Michael Seemanns Buch “Das neue Spiel“.