Bisher ist das Filmkorn an mir vorbeigezogen. Ich habe es nicht wahrgenommen. Es war einfach da. Doch jetzt, da es weg ist, vermisse ich es und frage mich, was es eigentlich war.
Doch von vorn: Mit dem Kauf eines HD-Fernsehers und dem Empfang von immer mehr Sendungen in hochauflösender HD-Qualität kommt man in den zweifelhaften Genuss, Bilder am heimischen Fernseher gestochen scharf zu sehen. Zweifelhaft ist dieser Genuss durch eine Tendenz zur Hyper-Realität: Ein Bild in HD-Qualität auf einem großen Fernsehgerät erschlägt einen fast mit Schärfe und Details. Plötzlich wird die Maske der Schauspieler sichtbar, Farben wirken oft erschreckend kühl, das Bild strahlt eine unnachgiebige Schärfe aus, die bei aller Faszination unangenehm ist.
Diese Schärfe ist natürlich nicht das einfache Ergebnis nur eines neuen Fernsehgerätes. Das Gerät gibt letztlich nur wieder, was ihm als Material übergeben wurde. Hier kann man ganz fachunkundig zwischen zwei Typen unterscheiden: hochauflösende Inhalte, die eigens für HD-Fernseher ausgestrahlt werden und nicht hochauflösende Inhalte für das klassische (jetzt ist es schon klassisch!) Fernsehen. An dieser Stelle sollen nur die hochauflösenden Inhalte interessieren – die zufriedenstellende Darstellung klassischer Inhalte auf einem HD-Fernseher ist eine Technik-Geschichte voller Missverständnisse für sich.
Hochauflösende Inhalte jedenfalls gibt es theoretisch zur Genüge: Die meisten Kinofilme der letzten Jahrzehnte wurden auf 35mm-Film gedreht, einem analogen Medium mit so hoher Auflösung, um auch auf der Kinoleinwand eine mehr als gute Figur zu machen. Für das klassische Fernsehen wurde dies bisher “runtergerechnet”, das heißt auf die geringe Auflösung angepasst. Für HD-Fernseher nun gibt es plötzlich die Möglichkeit, auch diese Kinofilme in deutlich höherer Auflösung noch einmal nach Hause zu bringen. Und wenn es gut gemacht ist, sieht es gut aus – keine Frage. Neben der DVD spielt hier die neuere BlueRay-Disc ihr Können aus.
Doch neben den bisher auf 35mm und auch 16mm gedrehten Filmen gibt es neue Kinofilme, Dokumentationen und Inhalte beliebiger Art, die auf modernen Kameras passend zum neuen Medium gedreht werden: Digitale Kameras mit Speicherchips. Diese werden verstärkt genutzt, denn die Arbeitskette ist ideal: Digitaler Dreh auf Chips, digitale Bearbeitung, digitales Senden. Auch wenn die digitale Filmtechnik an dieser Stelle vieles einfacher macht, hat sich eines grundlegend geändert: Die Filmstruktur. Film als analoges Medium hatte chemische Eigenschaften, die der Zuschauer bewusst oder unbewusst wahrgenommen hat. Insbesondere das “Filmkorn” (im englischen “grain” genannt) gab dem 35mm- und auch 16mm-Film seine grundlegend warme und edle Einfärbung, die ihn schon immer von anderen Filmformen unterschied. Es ist dieses wohlige “Krisseln” auf der Kinoleinwand, dass man nie als Bildstörung, sondern als angenehme Struktur wahrnahm. Auch das klassische Fernsehen mit seiner aus heutiger Sicht geringen Auflösungen (PAL zum Beispiel mit nur 625 Zeilen) “verwusch” Bilder derart, dass sie eine natürliche Wärme erhielten – unabhängig von der Studioaufnahmetechnik zum Beispiel.
Mit der digitalen Technologie nun gibt es weder chemische Strukturen, die das Bild in “grain” zerkrisseln, noch ist die Auflösung so gering, dass sich eine gewisse natürliche Bild-Wärme ergibt. Das digitale Bild zeigt ganz erbarmungslos das, was auf den Lichtsensor trifft: scharfe Kanten, winzige Details. Der Abdeckstift hat keine Chance. Und so ist die Euphorie beim hochauflösenden Fernsehempfang schnell ganz ambivalent. Das diesjährige Neujahreskonzert der Wiener Philharmoniker etwa war optisch zwar absolut hochauflösend, aber zugleich auch eine Zumutung, weil es einfach anstrengend ist und irgendwie angenehme Bildwärme, die an dieser Stelle zum Beispiel zur Musik passt, durch harte optische Details ersetzt wird.
Und so gibt es zwei Auswege aus dem aktuellen Unwohlsein. Der erste ist ein sozialer: Da Sehgewohnheiten natürlich ein kulturelles und kein angeborenes Phänomen sind, ist es nur eine Frage der Zeit, bis man sich an die neue Hyper-Realität und Über-Schräfe gewohnt hat und auch in ihr ein gewisse Harmonie und Ruhe des Bildes findet. Doch so recht will man es nicht glauben und Lust auf eine Umgewöhnungsphase um der neuen Technik Willen, wer möchte das schon? So ist die zweite Lösung eine pragmatisch-technische: Dem digitalen Film wird einfach ein künstlicher “grain” zugefügt. Das gewohnte Filmkorn wird also durch elektronische Zufallsmuster wieder als Struktur über Aufnahmen gelegt. Vorher Bedingtheit des Mediums, nun stilistisches Mittel.
Und so wird nach einer kurzen Verschärfung wohl wieder alles beim alten sein: Film, der mit einer Körnigkeit seinen (vom Inhalt unabhängigen) fiktionalen Charakter unterstreicht und dem Zuschauer trotz hoher Bildauflösung ein wohliges Gefühl vermittelt. Das klingt ein wenig unpoilitisch, ist es auch – aber medientheoretisch interessant. Regisseur Peter Jackson sagte dazu ganz passend: “If you shoot at 4K, but want a “film look”, then you finish at 2K and add some grain. It’s easy. It looks like film.”. Ja, it looks like film, ist aber keiner und das Filmkorn ist einer digitalen Renaissance wieder auferstanden.