Seit Monaten läuft die Veröffentlichung der Snowden-NSA-Leaks durch den Guardian und die Washington Post. Der Guardian hat dabei journalistischen Mut bewiesen und man kann ihm dafür danken. Und doch muss ich meine Forderung wiederholen: Gebt endlich die von Edward Snowden übergebenen Dokumente frei – vollständig und sofort.
Ende September habe ich die Frage gestellt, ob die Veröffentlichungsstrategie des Guardian noch ethisch vertretbar sei. Faktisch gibt es Dokumente, die Informationen darüber enthalten, welche Medien oder Personen abgehört werden. Es geht nicht mehr um theoretische Vermutungen, sondern um belastbare Beweise. Das Zurückhalten dieser Fakten setzt Menschen unnötig Gefahren aus. Ob es nun das Abfischen von unverschlüsseltem Traffic in Googles Rechenzentren ist oder das Abhören von Angela Merkels Handy: Die Belege darüber schlummern seit Monaten in journalistischen Händen. Gebietet es nicht die publizistische Ethik, diese Dokumente endlich freizugeben?
Es gibt natürlich auch Argumente, die für eine kuratierte Publikation in Salami-Taktik sprechen. Oft wird angemerkt, dass der Skandal verpuffen würde, wenn alle Fakten auf einmal bekannt würden. Doch geht es hier noch um eine maximalen Skandalisierung und mediale Aufmerksamkeit? Sollte es ab einem bestimmten Punkt nicht statt dessen um eine Tabula rasa gehen? Die Aufmerksamkeit ist da. Sie muss nicht mehr orchestriert werden. Und selbst wenn die Aufmerksamkeit als zu gering erachtet wird: Ein Hinauszögern auf Kosten Anderer wird sie nicht steigern.
Ebenso wenig gilt der Hinweis, dass es eben Zeit brauche, bis die Dokumente ausgewertet werden. Eine Veröffentlichung der Snowden-Daten würde eine deutlich schnellere Aufarbeitung ermöglichen. Natürlich verfügen Journalisten über ein Handwerk, Fakten zu prüfen. Im Internet aber gibt es Millionen von Menschen, die helfen könnten. Ich möchte hier kein Loblied auf die Crowd anstimmen: Beide, Journalisten und Crowd, können irren. Aber man sollte Menschen die Chance geben, rechtzeitig über Gefahren informiert zu werden.
Die verzögerte Veröffentlichung von Details aus dem Snowden-Leak war zu Beginn wahrscheinlich richtig. Der notwendige Zeitpunkt einer vollständigen Offenlegung ist nun jedoch seit Wochen überschritten. Ich möchte nicht mehr lesen, dass der Guardian unter Druck gesetzt wird, keine weiteren Informationen zu publizieren. Er soll sich und allen anderen den Gefallen tun und die Dokumente freigeben. Wir werden geschockt sein, wir werden fehlinterpretieren, aber wir werden nicht mehr sagen können: Hätte ich das doch vor Wochen schon gewusst!
Deine Sichtweise ist entweder gefährlich oder naiv: Einerseits würde mit der umfänglichen Veröffentlichung die mediale Aufmerksamkeit wie in einer kurzen Explosion verpuffen (als warnendes Beispiel sei auf die Wikileaks Cables Veröffentlichung hingewiesen). Andererseits wäre wegen des Umfangs auch keine “verantwortungsvolle” Veröffentlichung mehr möglich, was vermutlich noch energischere Reaktionen der betroffenen Regierungen bzw. Geheimdienste hervorrufen würde.
Schließlich sehe ich zur Zeit auch keine “Crowd”, die die entsprechende Arbeit leisten könnte bzw. wollte: Du lebst da zu sehr in deiner Filterblase verhaftet, wo nur von “aktivistischen Big-Data-Projekten” geschwärmt wird aber keine konkreten Vorschläge gemacht werden. Dabei schafft es die selbstbezogene Blogger-Community noch nicht mal, reale Aktivitäten gegen Überwachung (Demos, Protestaktionen, Informationsveranstaltungen) zu entfalten und andere Menschen außerhalb der Filterblase zu mobilisieren.
Ich schlage mal folgendes Experiment vor: Melde doch einfach eine Kundgebung vor dem BND-Neubau an, versuche andere dafür zu gewinnen und mobilisiere in deiner Filterblase. Mal schauen, wieviele Menschen du damit im Gegensatz zum Guardian/WP erreichst.
Die Empörungen lassen sich viel besser mit einer Salami-Taktik immer wieder neu entfachen als alle Informationen auf einmal publizieren. Die Snowden-Dokumente sind der neue Fortsetzungsroman 2.0. Die Aufmerksamkeit wird immer neu geriert; bei einer einmaligen Veröffentlichung ginge man noch schneller zur alltäglichen Routine über.
Bei aller berechtigter Kritik an dieser Vorgehensweise ist es imho doch ein Segen, dass sich Guardian und Co dafür entschieden haben. Nicht nur, weil das Thema weiterhin in den Nachrichten bleibt, sondern auch weil all diese Veröffentlichungen bei der Bevölkerung bisher größtenteils als seriös empfunden werden [citation needed].
Ich denke, würden die Dokumente von der Crowd ausgewertet, würden viele Tatsachen unter der Hysterie, den Übertreibungen und Fehlinterpretationen ihre Glaubhaftigkeit einbüßen.
Ich erinnere mich noch gut, wie die Leaks zunächst als bloße Sommerloch-Füller abgetan wurden. Es ist aber anders gekommen. Und ich bin stark davon überzeugt, dass der Guardian sich eine “All In” Option offen hält, sollten sie an der weiteren Bearbeitung des Themas gehindert werden.
Geheimdienste wollen genau eins nicht: Aufmerksamkeit. Genau das bekommen sie aber durch die scheibchenweise Veröffendlichungstaktik. Daher finde ich das Vorgehen des Guardian und der Washington Post gut.
Was mir wichtig wäre, dass die Originaldokumente zu jeder Story mit dieser sofort mitgeliefert werden. Das war bisher leider nicht immer der Fall.