Leitmedium

Es gibt kein analoges Leben im digitalen.

Caspar C. Mierau arbeitet als technischer Berater und denkt als Medienwissenschaftler, der zur Computergeschichte promoviert, über die Geschichte und Gegenwart von Technologie nach. Er schreibt und podcastet an der Schnittstelle von Praxis und Theorie, Technik und Kultur. Notiert kurze Gedanken auf Mastodon. Hat "Leitmedium" ganz offiziell als Künstlername im Ausweis stehen.

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Fremdschaemen

8. April 2009 by leitmedium

Vor einigen Wochen ereilte mich ein Schock zum Samstag: Ein Blick auf die Strasse offenbarte einen Demonstrationszug, der direkt vor meinem Haus hielt und dutzende Polizisten, die eine aufgebrachte Menge davon abhielten, noch naeher zu kommen. >>Thor Steinar schliessen<< hiess es und schnell offenbarte sich das ganze Uebel: Quasi ueber Nacht hatte im Nebenhaus ein Geschaeft der fuer die Neonaziszene bekannten Marke >>Thor Steinar<< eroeffnet. Eine Stunde spaeter war der erste Hitlergruss auf der Strasse zu sehen. Panik schlich sich ein. Hoffnung auf >>Gegenwehr<<, die nicht lange auf sich warten liess.

Doch treten wir einen Schritt zurueck und beschreiben die Szene abstrakt: Ein Geschaeft eroeffnet in einer Strasse. Ab dem Tag der Eroeffnung wird der Laden nahezu taeglich mit Farbbeuteln beworfen, die Scheiben tagsueber eingeschlagen, die Mitarbeiter und Einkaeufer beschimpft, vor das Geschaeft gespuckt, der Mittelfinger beim Vorbeigehen gezeigt und ueberdurchschnittlich viele Hunde erledigen unter Anleitung ihrer Halter ihre Geschaefte allabendlich nach Ladenschluss vor den verriegelten Schaufenstern. Es herrschen eine gereizte Stimmung und gegenseitiges Misstrauen zwischen Passanten und Ladenhuetern.

Diese Szene kommt befremdlich anachronistisch bekannt vor. Ist es nicht eben jene Szene, die im Schulunterricht als Ur-Parabel erzaehlt wurde ueber den verwerflichen Umgang mit als Fremdkoerpern empfundenen Geschaeften vor 1945? Waren es nicht eben jene Taten wie das Einschlagen von Scheiben, das wiederholte Beschmieren, Spucken, Beschimpfen, die Betroffenheit und historisches Unverstaendnis in einem erzeugten? Dies mag zugespitzt klingen und dennoch wirft es die Frage auf, wie man eigentlich mit dem umgeht, was einem fremd und zuwider ist – ohne Dinge zu tun, fuer die man selbst andere Menschen verurteilen wuerde.

Was also bleibt, ist ein aeusserst fader Beigeschmack, der die staendig praesente buergerliche Courage vorm eigenen Haus als peinlich und unbeholfenen anmutenden Aktionismus erscheinen laesst, der mit eben jenen Mitteln kaempft, fuer die er andere zur Rechenschaft ziehen moechte: Verbreiten von Angst, Zerstoerung, Diskriminierung. Es liesse sich viel einwenden im Sinne von >>Recht so<<, doch sind wir ehrlich, ist es nichts, worauf man stolz sein kann. Im Gegenteil – Fremdschaemen ist angesagt, spaetestens, wenn eine betrunkene Horde Jugendlicher ihr Adrenalin beim Werfen von Farbbeuteln auslebt.

Doch was kann man tun? Vielleicht geben die aktuelle Debatte um die Parteienfinanzierung und John Grishams >>Die Firma<< eine Antwort: Man kann das Spiel spielen. Waehrend ein Laden wie Thor Steinar sicher kaum schliesst, weil ein mutiger Buerger vor das Geschaeft spuckt, sind Mieter in Haus und Umgebung, die Mietminderung verlangen, ein Vermieter, der auf Druck von Oeffentlichkeit und Politik fristlos kuendigt und eine Stadtverwaltung, die es vielleicht etwas genauer nimmt bei der Pruefung von Parkplaetzen und Muelltrennung, Mittel, die zwar weniger Aggression abbauen, dafuer aber nachhaltiger und weniger … verkehrt.

(erschien zuerst in der Berliner Gazette)

Filed Under: Berlin, Moral, Politik, Postmoderne

Comments

  1. Andy Pawlowski says

    8. April 2009 at 15:46

    Und dreht man das Paradoxum noch ein wenig mehr im Kreis, erscheint das nächste krude Phänomen:
    Die Kunden und Besitzer des Geschäftes und damit auch das gesamte rechte Umfeld hat wieder einmal einen Grund sich als Märtyrer zu fühlen. Und drehen wir noch einmal weiter: Weil sie ja Märtyrer sind, fühlen sie sich wiederum berechtigt andere Menschen zu schlagen, die möglicherweise die gleiche Meinung haben könnte, wie einer der Ladengegner.
    Und so geht es dann immer und immer weiter…

  2. Nils says

    4. Juni 2009 at 18:29

    Schlimmer ist nur noch zu sehen, das alle Beteiligten davon *wirklich* nichts gewusst haben. Glaubt man allen Beteuerungen, so konnte das wirklich nur über Nacht passieren. Ausserdem ist meinem Vorschreiber auch nichts mehr hinzuzufügen, und ich kenne wirklich ein paar “Kunden” die genauso handeln wie er es beschreibt.
    Ich meine, es ist hier die allseits bekannte Friedrichshainer Politik, die eigentlich in “Unfähigkeits” Kabarett umgetauft werden müsste, die hier auf der ganzen Linie wieder das gezeigt hat was sie am besten kann: versagen !