Leitmedium

Es gibt kein analoges Leben im digitalen.

Caspar C. Mierau arbeitet als technischer Berater und denkt als Medienwissenschaftler, der zur Computergeschichte promoviert, über die Geschichte und Gegenwart von Technologie nach. Er schreibt und podcastet an der Schnittstelle von Praxis und Theorie, Technik und Kultur. Notiert kurze Gedanken auf Mastodon. Hat "Leitmedium" ganz offiziell als Künstlername im Ausweis stehen.

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Plaedoyer fuers Zuhoeren

13. Oktober 2008 by leitmedium

Das Radio brach durch einen Unfall in mein Leben. Es war kein eigener
Unfall, aber ein nahegehender, denn ein nahestehender Verwandter brach
sich beim freien Fall von der Leiter fernab seiner gefuehlten Berliner
Heimat beide Fuesse. So lag er Wochen ans Bett gefesselt und tat
zwangsweise vor allem eines: Zuhoeren. Er hoerte Radio. Tagein, tagaus.
Nachrichten, Dokumentationen, Features, Berichte, Diskussionen,
Interviews. >Sprachprogramm< koennte man es zusammenfassen.
Hunderte Stunden Worte, die durch eine klaeglich kleine Box schallten
und durchs Ohr ihren Weg sich bahnten. Nachhaltig.

Ja, nachhaltig, denn nachdem besagter Patient zumindest in passiver
Sitzhaltung sich wieder der Grossstadt und damit dem schnellen Leben
naeherte, blieb ein stetig nachhallendes Echo des Zwangsurlaubs
zurueck. Dieses Echo gestaltete sich als steter Fluss ueberraschender
Einwuerfe hier und da. >Habt Ihr eigentlich gewusst, dass? … Also
geschichtlich bezieht sich dies auf … Etymologisch hat es ja einen ganz
anderen Ursprung…< Die Antwort auf die Frage, wo denn dies oder
jenes Argument herkomme war stets dieselbe. >Habe ich in einen
Bericht im Radio gehoert<. Hat er also in einen Bericht im Radio
drueber gehoert.

Da verschlaegt es einem doch irgendwann die Sprache. Man sieht fern,
liest Zeitung, sucht hier, schaut da. Schaltet um, blättert und denkt
weiter. Die Ohren aber, sie nehmen anders auf. Vielleicht auch, weil
niemand auf die Idee gekommen ist, ein Radiofeature im Stile der
ausufernden, vielfach fragmentierten Fernsehdokumentationen [Story
eins, Schnitt, Story zwei, Schnitt, Story drei, Schnitt, wieder Story
eins…] zu gestalten. Kein Zwang zum Bild, keine Werbeeinblendungen. Es
funktioniert technisch einfach nicht. Vielleicht also ist das Radio gar
nicht so tot, wie man meinen moechte. Es ist nur beschraenkt. Nennen
wir es fokussiert.

Zuerst erschienen in der Berliner Gazette.

Filed Under: Kommunikation, Kritik, Kultur, Kulturgeschichte, Medien, Moderne, Radio, TV