Dabei hatten wir eine Abmachung. Jeden Morgen stehen wir scheinbar zufällig zur selben Uhrzeit an der Straßenbahnhaltestelle, die neuerdings “Tram”, gar verwirrenderweise “Metro” heißt. Wir stehen jedenfalls dort, grüßen uns nicht, steigen gemeinsam ein, sehen uns nicht an, steigen gemeinsam aus, berühren uns nicht, gehen den selben Weg, unterhalten uns nicht. Alles ist gut. Tagaus, tagein. Er hält zumeist einen billigen Paperbackthriller in der Hand. Sein Stück Freiheit am Morgen. Ich versuche den Sätzen irgendeines Romans zu folgen, den ich eingebildeter Weise für besser halte. Immerhin hat er einen Leineneinband.
Die Welt war schön, so wie sie ist. Bis heute. Es hätte schlimmer nicht kommen können. Nein, er hat mich nicht angesprochen, auch nicht aus Versehen angesehen (wie in der letzten Woche in einem unaufmerksamen Moment), auch hatte er seine Freundin nicht dabei, die wahrscheinlich seine Frau ist und mich bereits einmal verstörte – er hätte fragen müssen. Nein, es ist viel schwerwiegender. Er greift um sich, greift in mein Leben ein. Die nie getroffene Abmachung lautete: Treffen uns 7:40 Uhr an der Haltestelle, ignorieren uns, steigen gemeinsam ein und aus, sind ein altes Ehepaar ohne Ehe und ohne Paar.
Doch nun, nun schockt er mich, indem er bereits eine Viertelstunde früher in der U-Bahn sitzt, die mich erst zu unserem Treffpunkt bringt. Er dringt in mein Privatleben ein, fährt mit der U-Bahn durch meine Straße, ist plötzlich ganz nah. Dabei sitzt er unschuldig lesend in der Bahn, die Vereinbarung brechend, den Ablauf ruinierend. Es ist eine Katastrophe.
Morgen, morgen, ich befürchte es – hat sein Buch auch einen Leineneinband.