Warum die Abschaffung des Briefmonopols einem auch einfach auf die Nerven
gehen kann.
Es könnte so schön sein. Gegen zehn Uhr schlendert man im Morgenmantel die Treppen ins Erdgeschoss, um aus dem Briefkasten Zeitung, Werbung und die irgendwie schon anachronistisch wirkenden Briefe (Rechnungen, den aktuellen Stand eines datensammelnden Rabattsystems, noch mehr Werbung, Strompreiserhöhungen und einmal im Jahr eine Geburtstagskarte von der Hausbank) zu holen. Doch die Realität ist hart. Dass es entspannend sei, nicht morgens um acht zur Arbeit zur fahren und statt dessen in den eigenen vier Wänden zu bleiben, ist ein Irrtum, dem nur jemand unterliegen kann, der die Strapazen der Kombination dreier Erfindungen noch nicht kennt, deren Zusammenhang sich erst auf den zweiten Blick erschließen mag: Die selbstschließende Haustür, die Wechselsprechanlage und die stufenweise Abschaffung des Briefmonopols.
Früher war alles besser. Jeden Tag schob ein Mittvierziger mit überdimensionierten Schlüsselbund einen gelben Wagen mit Posthorn vor sich her. Der Mann war diskret und wollte man seine Ankunft nicht verpassen, musste man entweder aus dem Fenster spähen oder den ungefähren Zeitplan erahnen („Jetzt ist es gleich elf, mal sehen, ob die Post schon da ist.“). Irgendwie war alles gut und in seltenen Fällen erlaubte sich der Herr zu klingeln. Wenn es schlecht kam, übergab er ein Einschreiben (dessen Ablehnung irgendwann paradoxerweise als Zustellung galt) und hier und da einen dickeren Brief, der nicht in den Briefkasten passte.
Den Mann mit dem gelben Wagen gibt es noch immer. Er ist zusehends gealtert und sein Gang ist hektischer geworden. Ein Blick aus dem Fenster lohnt sich nicht mehr – zu schnell erledigt er seine Aufgabe. Auch klingelt er immer seltener. Wer schickt schon noch Einschreiben und die großen Briefe werden doch wohl irgendwie da reinpassen (halb hängend ist ja auch in Ordnung) oder einfach auf die Briefkästen gestellt. Man ist ja selber Schuld, wenn man so große Post bekommt.
Der Mann mit dem gelben Wagen ist nicht mehr allein. Er hat Kollegen bekommen. Sie reisen an mit Autos und Fahrrädern. Die Kollegen mit den Autos sind die Männer fürs Grobe. Sie parken in zweiter Reihe, rennen mit Paketen unter dem Arm zur Tür und drücken verzweifelt die Knöpfe der Adressaten. Sie sind in der Regel Einzelunternehmer
mit fragwürdigen Verträgen und jede Minute zählt. Deswegen verzeiht man ihnen die atemlose Hast und schlechte Laune, wenn man auf die Frage „Welche Etage?“ beinahe peinlich berührt mit „Dritte“ antwortet und doch tatsächlich überlegt, ihnen sprichwörtlich entgegenzukommen. Böse Zungen behaupten, regelmäßig Notizen an der Haustür zu
finden, nicht angetroffen worden zu sein. Man war doch da? Ist die Klingel defekt?Ist sie nicht. Denn dies beweist mit zielstrebiger Sicherheit ein weiterer Kollege: Der Mann mit dem blauen Fahrrad, zuständig fürs Feine. In galanter Leichtigkeit spreizt er bei Ankunft seine Finger, um mit höchster Effektivität alle Klingeln der Wechselsprechanlage
zu betätigen. Tappt man in seine Falle, verläuft das Gespräch an einer beliebigen Zeit zwischen acht und dreizehn Uhr nach seinen Regeln wie folgt:
Mieter: Ja?
Mann mit dem blauen Fahrrad: Hier ist die Post! Ich müsste mal an die Briefkästen! Können Sie aufmachen?!
Mieter: Ja, natürlich! summ
Natürlich öffnen wir der Post. Wo kommen wir sonst hin? Doch den Mann mit dem blauen Fahrrad nicht sehend, schwant uns nach dem dritten Mal: Moment, der Mann mit dem gelben Wagen hat doch einen Schlüssel? Und warum klingeln ständig irgendwelche Boten? Als aufgeklärter Bürger und Berliner dazu sind wir natürlich nicht auf den Mund gefallen. Wehret den Anfängen. Keine Amtsanmaßung mehr. Und so verändert sich das morgendliche Ritual wie folgt:
Mieter: Ja?
Mann mit blauen Fahrrad: Hier ist die Post! Ich müsste mal an die Briefkästen! Können Sie aufmachen?!
Mieter: Die Post hat doch einen Schlüssel?
Mann mit dem blauen Fahrrad: (sich räuspernd) Äh ja, hier ist die PIN AG. Ich habe Briefe für Ihr Haus, wären sie so freundlich, zu öffnen?
Mieter: Aber gern. summ
Nun, manche Dinge muss man üben und dieser Dialog wurde in fast identischem Wortlaut
dutzende Male geführt, bis eines Tages der Glaube an das Gute im Menschen gewann:
Mieter: Ja?
Mann mit dem blauen Fahrrad: Hier ist die PIN AG. Ich habe Briefe für Ihr Haus, wären sie so freundlich, zu öffnen?
Mieter: Aber gern. summ
Auch der Mann mit dem blauen Fahrrad also ist lernfähig. Das ist doch was. Wir fühlen uns erleichtert – doch ein größeres Problem zeichnet sich ab. Wie soll es weitergehen mit der zunehmenden Fragmentarisierung des Brief- und Logistikmarktes? Noch immer hat der heute “Zusteller” genannte Briefträger der Deutschen Post einen Hausschlüssel und betritt unauffällig und problelos das Haus. Doch Lieferdienste wie DHL, UPS und Hermes und die wachsenden privaten Briefdienstleister wie die nicht unumstrittene PIN AG verlangen die Anwesenheit von Bewohnern im Haus, die bereit sind, für sich selbst oder ihre Nachbarn die Tür zu öffnen oder Sendungen entgegenzunehmen. Da die vielbeworbenen Freiheiten durch den Versand und die zunehmend notwendige Anwesenheit im Haus sich direkt konterkarieren, scheint sich der wachsende Mark der privaten Brief- und Paketdienstleister selbst ad absurdum zu führen. Dabei hat man das Problem erkannt und versucht, jeder auf seine Weise, Abhilfe zu schaffen. Während DHL
mit der Packstation, dem „neuen Immer-Offen-Paketschalter“ zugangsgeschützte Automaten anbietet, an die man sich Lieferungen zustellen lassen kann, bieten andere Anbieter wie Hermes die Zustellung auch an einen Paketshop an. Im Endeffekt heißt dies: Der Versand endet bestenfalls auf der gegenüberliegenden Straßenseite, früher hieß dies „postlagernd“. Aus diesem scheinbar unlösbaren Dilemma heraus sehnt man sich fast nach einer „letzten Meile“ auch für den Brief- und Paketversand.
Diese Vorstellung ist natürlich utopisch wenn nicht dystropisch und es bleibt zu hoffen, dass private Briefzusteller und Logistikunternehmen eine einheitliche Lösung finden, wie mit dem fehlenden Hausschlüssel umgegangen wird. Zumindest für den Briefverkehr erschiene es logisch, Briefkastenschlitze an der Haustür nach außen zugänglich zu
machen. Doch ist das Misstrauen gegenüber den ja potentiell randalierenden Mitbürgern sicher zu groß, als dass man gern diesen Teil der Privatsphäre aufgibt, obwohl man durchaus bereit ist, seinen Brief in einen herumstehenden Briefkasten zu werfen. Und auch wenn Zäune neuerdings das Mittel zum Zweck sind, halten sie in diesem Fall den
Brief bzw. das Paket wohl auch kontraproduktiv von seinem Bestimmungsort ab.
Der Mann mit dem blauen Fahrrad wird also weiterhin klingeln. Und wenn eines Tages sein Nachfolger kommt, wird auch dieser zu üben haben, sich richtig vorzustellen. Vielleicht aber ergeben sich durch die grundlegenden Veränderungen der Brief- und Paketzustellung bauliche Veränderungen im Straßenbild, die auch ihn wie den Mann mit dem gelben Fahrrad wieder in der Anonymität versinken lassen. Der Briefschlitz ist bereits von der Wohnungstür zum Briefkasten im Hausflur gewandert. Seine nächste Station wird wohl vor der Haustür liegen.