Leitmedium

Es gibt kein analoges Leben im digitalen.

Caspar C. Mierau arbeitet als technischer Berater und denkt als Medienwissenschaftler, der zur Computergeschichte promoviert, über die Geschichte und Gegenwart von Technologie nach. Er schreibt und podcastet an der Schnittstelle von Praxis und Theorie, Technik und Kultur. Notiert kurze Gedanken auf Mastodon. Hat "Leitmedium" ganz offiziell als Künstlername im Ausweis stehen.

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Der Kopfkissenfaktor (Das Model und der Freak)

15. Juli 2007 by leitmedium

Es gibt Situationen im Fernsehen, da
muss ich mir ein Kissen vors Gesicht halten. Ich kann die
Peinlichkeit einfach nicht ertragen. Persönliche Geständnisse,
scheiternde Liebesbekundungen, „Schicksale“. Das wohl mit Abstand
kissenlastigste Format ist derzeit „Das Model und der Freak“.

Immerhin gibt es dem schwer greifbaren
Begriff „Freak“ eine sichtbare Bedeutung: Ein Freak, das ist
jemand, der längere Haare trägt, sich seltener oder gar
nicht rasiert, eine statistisch überdurchschnittliche Vorliebe
fürs Live-Rollenspiel hat oder einfach jener Mensch ist, den man
einfach nicht sieht. Der nächste Bitte.

Das Model hingegen ist das pralle
Leben. Es sieht gut aus, trägt Lipgloss, ist sich in keiner
Situation zu schade, einem dem Busen ins Gesicht zu pressen und schon
allein deswegen prädestiniert, dem Freak, dem Normalo, der
gescheiterten Existenz, das Leben im Allgemeinen und Speziellen zu
erklären, ja, eine fünf-Tage-Therapie zu führen.

Einfach mal das Leben nicht so traurig
nehmen, ein bisschen auf die Leute zugehen, Du schaffst das. Für
diese Aussagen braucht man eben keine Ausbildung, nein, nur ein
bisschen Glamour. Und der Freak nimmt es hin, bemalt willig die Haut
des Models mit Fingermalfarben, springt mit dem Fallschirm aus dem
Flugzeug und lässt sich mit aller Wucht ins H&M-Outfit
pressen, was Mutti danach vor Freude weinend lobt. Hauptsache Ihr
gefällts. Na siehst Du. Du musst nur an Dich glauben. Und an den
Dich lehrenden Busen, die Qualifikation für Lebenshilfe.

Dass dessen Inhaberin in praller
Nacktheit mehr Hure als Freud ist, stört niemand. Da könnte
man lachen, wenn er im Badezimmer erzählt, dass er in den Puff
geht, während sie ihm den spärlich mit Badeschaum bedeckten
Hintern entgegenstreckt und dabei versichert, dass sie so etwas ja
nicht verurteile. Was koste es denn?

Er darf mal anfassen, sie mal
bemuttern. Am Ende sieht er aus, wie alle, nur ein bisschen anders
und sie kann ihre Binsenweisheiten und Kaffeesatzlesereien
medientauglich als Lifestyle verkaufen. Dass sie der Freak ist, das
Model kurz vor der Mittsommerwende, man weiß es und bemitleidet
sie. Und ihn.

Filed Under: Kommentar, TV