Im »Dental Spa« soll ich mich entspannen und während der Zahnprophylaxe etwas schauen. Die Frage ist nur, was. Offenbar muss jede freie Minute gefüllt werden, selbst wenn man mit geöffnetem Mund daliegt und eigentlich gar nichts sehen möchte. Ein kurzer Blick auf eine Praxis, in der der Bildschirm wichtiger geworden ist als die Stille.
Die Liege wirkt ein wenig obszön, denke ich. Wir betreten den Raum im “Dental Spa” und ich soll es mir gemütlich machen zur Prophylaxe. Ich blicke auf eine breite Liege und frage mich, wieso sie so unfassbar breit ist. Ist das ein Objekt, das Luxus ausstrahlen soll? Ich fühle mich ein wenig gestresst bei dem Gedanken, dass ich offenbar angehalten bin, diese Monstrosität an Entspannungsarchitektur jetzt als Luxus zu genießen.

Ich lege mich auf den Stuhl und blicke auf den nun seit vielen Jahren obligatorischen Bildschirm über mir. Es läuft eine Tierdokumentation. Fische jagen durch blaues Wasser, das man eigentlich nur aus solchen Dokumentationen kennt. Was ich denn sehen wolle, fragt die Assistentin. Ich könne sehen, was immer ich wolle. Sie hält mir eine Fernbedienung vor das Gesicht und wechselt hektisch durch das Netflix-Angebot. Filme, Serien, alles sei möglich. Sie scrollt durch die wahllosen Vorschläge, die der auf Personalisierung spezialisierte Algorithmus offenbar auf Basis der letzten Personen hier auf dieser Liege zusammengestellt hat. Harry Potter, Friends, Terminator. Ich bin ein wenig überfordert. Die Assistentin scheint unter Zeitdruck, ist aber sichtbar bemüht um meine Luxus-Erfahrung. Sie gibt mir die Fernbedienung in die Hand, fordert mich auf, eine Mundspülung zu benutzen und gibt mir zwei Minuten als Auswahlzeit. Während ich den leicht brennenden Minzgeschmack im Mund hin und her bewege, scrolle ich durch Netflix. Ich wähle eine Folge Brooklyn Nine-Nine aus und stelle die Sprache auf Englisch um. Während ich noch immer die Spülung im Mund habe, muss ich ein Lachen unterdrücken. Nein, das ist doch absurd, etwas Lustiges sehen und dabei eine Zahnprophylaxe bekommen.
Und eigentlich will ich das auch gar nicht. Ich will jetzt nicht Netflix gucken. Mein Finger berührt den Aus-Knopf der Fernbedienung. Doch irgendwie fühlt es sich an wie ein Verrat. Offensichtlich ist es die Erwartung, dass ich mich entspannen und dabei Netflix sehen soll. Das macht man so. Ich spucke aus, gebe die Fernbedienung zurück und bitte darum, dass die Tierdokumentation wieder angemacht wird. Zufrieden wählt die Assistentin eine Dokumentation aus. Es ist sichtlich eine andere. Keine Fische. Ich mag Fische. Nun sind es Wildtiere. Na gut. Ich merke noch an, dass es schön wäre, wenn die Tiere sich nicht gleich zerfleischen. Die Assistentin lacht. Der Kunde hat einen Scherz gemacht.
Minuten später liege ich mit Kakaobutter auf den Lippen (Entspannung!), diesem entstellenden Mundoffenhalt-Ding und einer Plastikbrille auf dem Stuhl. Die Prophylaxe ist angenehm. Der Sandstrahl strahlt so vor sich hin. Es ist heute angenehmer als die letzten Male, denke ich, und ich starre auf den Bildschirm. In regelmäßigen Abständen kommt die Frage, ob alles gut sei. Ja, brumme ich, ein ums andere Mal. Sprechen oder Nicken geht ja nicht. Und was soll ich auch sagen. Dabei würde ich gern etwas sagen. Ich würde gern sagen, dass die Prophylaxe angenehm ist, ich aber gerade dabei zusehen muss, wie ein Bär durch eine Landschaft voller Gänsenester streift und wahllos in die Nester hineinbeißt und kleine gelbe, flauschige Küken frisst. Blut tropft ihm aus der Schnauze. Mein Zahnfleisch sei ein wenig gereizt, das könne ein wenig bluten, merkt die Assistentin an. Ja, ja, brumme ich. Aber sieht sie denn nicht die Küken da. Kann ich die Augen schließen. Darf ich nicht Netflix gucken. Die Szene wechselt. Ob alles ok sei. Ja. Löwen lungern in einem Baum. Nein, denke ich, nein. Die nicht auch noch.
Ich schließe die Augen. Die Prophylaxe strahlt weiter vor sich hin. Eine andere Assistentin betritt den Raum. Es gibt ein Gespräch über Computerprobleme. Der Rechner würde immer einfrieren. Es könne aber auch am fehlenden Mauspad liegen. Das habe die Kollegin mitgenommen. Ja, das könne sein. Während am Computer repariert wird, wird mein Gebiss weiter bearbeitet. Meine Augen bleiben geschlossen. Keine Löwen mehr jetzt. Ob es wohl auffällt, wenn der Patient die Augen schließt. Ist alles gut? Ja. Die Frage wird gestellt, ob der Computersupport auch Boxen bereitstellen könne. So für Musik. Sie hätte welche gehabt, aber die Kollegin habe sie mitgenommen. Es gebe Patientinnen, die wollten einfach nur Musik hören. Für Boxen müssten sie ein Ticket aufmachen. Beim Computerdoc. Ich glaube, es geht um mich, denke ich. Wenn ich schon bei Netflix versage, muss ich das nächste Mal Musik auswählen. Zwei Minuten. Was wollen Sie hören. Sie müssen etwas hören.
Ich muss an einen Text von Andreas Bernard denken. In seiner melancholischen Erinnerung an Flipper betrauert er die verlorene Fähigkeit, Pausen auszuhalten. Während in seiner Kindheit sich die Frage darum drehte, wie man freie Nachmittage verbringe, geht es heute darum, freie Minuten und Sekunden zu füllen. Kein Leerlauf. Ein Gerät wird schon parat sein, um auch diese Lücke effizient zu machen. Du musst dabei arbeiten oder du musst dich entspannen. Dabei wollte ich einfach nur da liegen und an nichts denken. An nichts denken kann man auch lernen. In Online-Kursen, in denen man das in zehn Schritten effizient und schnell lernt.
Die Prophylaxe war angenehm, bedanke ich mich und bekomme ein Goodie-Bag mit den üblichen Zahnpasta-Proben. Während ich die Praxis verlasse, überlege ich, ob ich eigentlich Netflix gesehen habe oder Netflix mich hat sehen lassen. Es wirkte wie ein Benutzungszwang. Ich war nicht mehr Nutzer, sondern Teil einer Medienmaschine. Meine Aufgabe war das Konsumieren. Ich musste zusehen. Sendeminuten müssen erfüllt werden. Ich kann mir ja aussuchen, was ich will, nur nicht nicht wollen. Es muss etwas gesehen werden.
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