Mediengeschichte, Gegenwartsdebugging, Zukunftskritik.

Nun war es mal wieder so weit. „Das halbe Internet ist ausgefallen“, geisterte es durch die sozialen Medien und Nachrichtenportale. Betroffen seien unter anderem »der Messenger-Dienst Signal, Epic Games, Fortnite, Canva, Perplexity, Zoom, Slack, Ubisoft, Steam, Playstation Network, Coinbase, Atlassian, Jira, Cloudflare und Google«. Grund war eine Störung in der wichtigen Region us-east-1 des Cloud-Hyperscalers AWS.

Vortragsfolie zum “Cloud Wetter”

Ohne weiter auf die technischen Details einzugehen oder dem halben Internet nachzujammern, will ich die Gelegenheit nutzen, um noch einmal auf unseren Umgang mit Problemen dieser Art einzugehen. Vor einigen Monaten habe ich in einer Keynote auf der SLAC über den Safe Choice Bias gesprochen und bin der Frage nachgegangen, warum wir so inkonsequent sind, was den Ausstieg aus nicht-resilienten, unsouveränen US-Diensten angeht. In einem Punkt bin ich dabei auf den „Cloud-Wetterbericht“ eingegangen.

Wir nehmen, so meine These, Ausfälle großer Anbieter stoisch hin, während wir kleineren Anbietern Probleme ankreiden. Wenn ein kleiner, alternativer Hoster eine Störung hat, sind die Gespräche über einen Wechsel zu einer belastbareren Lösung nicht weit. Man muss sich rechtfertigen, warum nicht zu einer Standardlösung (wie AWS, sic) gegriffen wurde. Fällt jedoch ein großer Anbieter aus und legt in einer technischen Kaskade „das halbe Internet“ lahm, wird der Ausnahmezustand wie ein Wetterbericht hingenommen. Stürmisch heute! Kann man nichts machen! Stattdessen setzt sich das Netz an einen virtuellen Kaffeetisch und überbietet sich gegenseitig mit den lustigsten Memes.

Vortragsfolie aus meinem SLAC-Vortrag zum Cloud-Wetter. Es sind Memes zu verschiedenen großen Ausfällen im Netz zu sehen, unter anderem: Cloudflare, Cloudstrike, Slack, Jira, Github.

Das ist natürlich auch lustig – und gemeinsames Leiden ist bekanntlich halbes Leiden. Und natürlich lassen die Think Pieces nicht lange auf sich warten, die vor der Gefahr homogener Infrastrukturen warnen. Ein weiterer Punkt übrigens aus meinem Vortrag, in dem ich gezeigt habe, wie sich die Geschichte der Forstwirtschaft und Monokulturen in der IT wiederholt – mit vergleichbarer Fragilität. Erinnert sei an ie ungesunden, schnell abbrennenden Wälder, die eigentlich schnell Holz produzieren sollten. – Doch letztlich bleibt es oft bei Lippenbekenntnissen. Und wir verharren im „Safe Choice“, eben jener Entscheidung, die die anderen auch treffen. Denn lieber leiden wir gemeinsam unter dem Wetter.

Ein vielfach gepostetes Meme zum aktuellen AWS-Ausfall. Ich verlinke normalerweise Quellen, habe aber keine Originalquelle und möchte auch niemanden mit einem Link diskretiditieren.

Ich hoffe, irgendjemand berechnet den gesamtwirtschaftlichen Schaden dieses AWS-Ausfalls. Nur für den Fall, dass es demnächst wieder heißt, man müsse bei einem Hyperscaler sein, weil nur er ausreichend vor Problemen schützen könne. Das kann er nicht. Auch dort wird nur mit Wasser gekocht – und wenn es zu einer Störung kommt, ist sie so massiv, dass sie mittlerweile essentielle Auswirkungen auf das Netz hat. Wir sollten uns dabei nicht der Illusion hingeben, dass all das durch kleine Memes aufzulockern wäre. Denn sichtbar wird hier nicht nur die Fragilität vermeintlich resilienter Monokulturen – sondern auch, was passieren kann, wenn politischer Druck auf technische Dienstleister ausgeübt wird.

Ein Problem in US-EAST-1 – und das halbe Internet ist gestört. Vielleicht eine Übertreibung. Aber die Gefahr ist real: technisch, politisch – und wir sollten das Wetter nicht wieder weglächeln.

Der Weg raus aus der Abhängigkeit ist nicht glamourös. Er ist steinig, langsam und macht selten Spaß. Auch ich bin noch weit entfernt davon, vollständig „resilient“ zu sein. In meiner persönlichen Infrastruktur tauchen überall bequeme, US-basierte Monokulturen auf – und das ebenso in vielen Projekten, in die ich privat oder beruflich involviert bin. Aber: Sich dem Cloud-Wetter zu entziehen ist kein binäres on/off. Es ist ein Prozess. Schritt für Schritt.

Wenn wir anfangen, in kleinen Zirkeln Alternativen zu suchen, zu testen, umzusetzen – dann verändert sich etwas. Vielleicht nicht sofort, aber nachhaltig. Und ja: Auch dann posten wir Memes. Auch dann freuen wir uns über kleine Erfolge, lachen gemeinsam über Fehler, leiden gemeinsam – aber nicht mehr, weil „das halbe Internet“ ausgefallen ist.

Sondern weil wir gerade zum dritten Mal einen Selfhosted-Kalender aufgesetzt haben und es nervt. Weil Dinge hakeln, weil Doku fehlt, weil der Login nicht will. Aber wenigstens wissen wir, woran es liegt. Und wenigstens kontrollieren wir es.

Ich möchte gern über diese Dinge lachen – offen, gemeinsam, solidarisch. Nur die inkonsequente Haltung gegenüber angeblich ausfallsicheren und alternativlosen US-Diensten möchte ich nicht mehr hören.


Caspar Clemens Mierau arbeitet freiberuflich seit über 25 Jahren in Infrastruktur- und Security-Projekten – sowohl strategisch beratend als auch Hands-on. Er unterstützt Unternehmen bei der Umsetzung digitaler Souveränität und resilienter IT-Strategien. Nebenberuflich promoviert der Medienwissenschaftler zur Computergeschichte der 1970er Jahre, bloggt und podcastet zu Technik-, Medien- und Elternthemen. Und er mag kooperative Brettspiele und wirklich guten Kaffee.

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