Leitmedium

Es gibt kein analoges Leben im digitalen.

Caspar C. Mierau arbeitet als technischer Berater und denkt als Medienwissenschaftler, der zur Computergeschichte promoviert, über die Geschichte und Gegenwart von Technologie nach. Er schreibt und podcastet an der Schnittstelle von Praxis und Theorie, Technik und Kultur. Notiert kurze Gedanken auf Mastodon. Hat "Leitmedium" ganz offiziell als Künstlername im Ausweis stehen.

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Warum das ironisierende Vorlesen von »mean tweets« nicht lustig, sondern problematisch ist

13. März 2015 by ccm

Ich habe schon viel gelacht über Videos, in denen Prominente »mean tweets«, also gemeine Tweets, über sich vorlesen. In der Regel sitzt eine Person mit einem Smartphone vor der Kamera, liest Tweet um Tweet vor und kommentiert diese. Dabei wird die Absurdität der Tweets deutlich und sie rutschen nicht zuletzt durch Ironisierung ins Lächerliche. Aktuellstes und kurzweiliges Beispiel: US-Präsident Obama:

Oder ein deutsches Beispiel aus der »Disslike«-Serie:

Bisher fand ich diese Form der Aufarbeitung gut, denn sie vermittelt eine Wehrhaftigkeit der betroffenen Personen und Problematisierung verbaler Attacken. Doch mittlerweile bin ich mir unsicher, ob es wirklich der richtige Umgang mit dem Thema ist.

Sieht man sich viele der vorgetragenen Tweets genauer an, sind sie sicherlich gemein und zielen darauf ab, eine Person zu verletzen. Mit dieser Sprache ist das Ende der Fahnenstange aber noch nicht erreicht. Was »mean tweets« Videos nicht thematisieren (ich habe es zumindest noch nicht gesehen), sind Mord- und Vergewaltigungsdrohungen – hate speech im Sinne zutiefst verletzender und einschüchternder Sprache. Sprache, die Menschen verängstigt und zum Schweigen bringt.

Dass diese Tweets nicht thematisiert werden, liegt zum einen am Format. Wie sollte man diese Äußerungen in einem ironischen Kontext präsentieren und drüber kichern? Es ist Unterhaltung und Mord- und Vergewaltigungsdrohungen unterhalten hoffentlich nicht. Zum anderen scheinen die AkteurInnen vor der Kamera oft eine Grunddistanz zum Medium Twitter zu haben: Sie stehen in der Öffentlichkeit, ihre Accounts haben wahrscheinlich nicht immer denselben persönlichen Charakter, wie es die von weniger bekannten Menschen haben. Das ist sicher keine allgemeingültige Feststellung und darf die Wirkung von Nachrichten auf diese Personen nicht bagatellisieren. Es sollte aber als Hinweis genügen, dass SchauspielerInnen, MusikerInnen und PolitikerInnen kein role model sind, wie man persönlich mit verbalen Angriffen umzugehen hat. Denn der negative Aspekt, den »mean tweets«-Formate haben, ist die Gefahr der Vermittlung eines falschen »So solltest Du mit Hate-Speech umgehen«-Codex. Die schlimmste Folge wäre ein »bleib doch mal locker und nimm das nicht so ernst«, was Opfer erst recht verstummen lässt.

Das Problem ist eigentlich noch komplexer, denn es stellt sich die Frage, was einen Schauspieler in seiner Prominenz von durchschnittlichen Twitter-NutzerInnen unterscheidet. Letztlich verschwimmen die Grenzen hinsichtlich Reichweite. Ob ein TV-Promi oder ein Twitter-Native mehr Follower hat, lässt sich nicht pauschal sagen. Es gibt jedoch verschiedene Arten, soziale Medien in das eigene Leben zu integrieren und ernst zu nehmen. Sind sie nur ein Publikationskanal oder begleiten sie einen durch den Alltag? Und hier liegt eine grundverschiedene Ernsthaftigkeit in der Interpretation.

Nicht zuletzt sendet das öffentliche Bekichern falsche Signale an die Sender der Nachrichten: »Seht her, wir lachen über euch«. Die Intention scheint die richtige, denn man versucht zu signalisieren, dass »mean tweets« lächerlich sind, einen nicht verletzen und eigentlich die Urheber der Nachrichten die Witzfiguren sind. Jedoch lässt sich diese Aussage nicht pauschalisieren und die Personen, denen solche und schlimmere Nachrichten weh tun, trauen sich nicht vor die Kamera. Das vermittelte Bild ein falsches und führt im dümmsten Fall zu einer Ermunterung, doch einen drolligen »mean tweet« abzusetzen. Das wiederholte ironisierte Vorlesen von Hassnachrichten mittlerer Schärfe führt zur Desensibilisierung. Das aber nicht zwangsläufig bei (potentiellen) Opfern.

Letztlich darf jeder Mensch verletzt sein und ausgerechnet Personen, die bereits in der klassischen medialen Öffentlichkeit stehen, sind keine Vorbilder für Menschen, die soziale Dienste im täglichen Leben nutzen und dadurch in eine persönliche Öffentlichkeit treten. Für mich ist das Thema »mean tweets« erst einmal durch. Es ist mit Sicherheit gut gemeint, in der Wirkung halte ich es für problematisch.

[update]

Das Wort “gefährlich” wurde durch “problematisch” ersetzt, weil es besser passt.

 

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