Leitmedium

Es gibt kein analoges Leben im digitalen.

Caspar C. Mierau arbeitet als technischer Berater und denkt als Medienwissenschaftler, der zur Computergeschichte promoviert, über die Geschichte und Gegenwart von Technologie nach. Er schreibt und podcastet an der Schnittstelle von Praxis und Theorie, Technik und Kultur. Notiert kurze Gedanken auf Mastodon. Hat "Leitmedium" ganz offiziell als Künstlername im Ausweis stehen.

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Kurz notiert: Über Plattformen, Publisher und “Platisher”

20. Oktober 2014 by ccm

Im jüngst erschienenen Buch “Das neue Spiel” widmet sich Autor Michael Seemann in einem eigenen Kapitel dem “Aufstieg der Plattformen”. Plattformen lassen sich hier als technische Strukturanbieter/Strukturen im Gegensatz zu kuratierten Medien verstehen:

»Plattformen finden sich in vielen Gestalten. Abgesehen vom unaufhaltsamen Aufstieg der Social Networks – zunächst Friendster und Myspace, schließlich das weltweit erfolgreiche Facebook – sind bekannte Beispiele für Plattformen Twitter, Instagram, Airbnb, MyTaxi und Car2Go. Doch die Plattform gab es lange vor diesen Diensten: Das Internet selbst ist eine Plattform, genauso wie das sich darauf abspielende World Wide Web. Jedes Betriebssystem bildet eine Plattform. Der Begriff lässt sich aber durchaus ins Nichtdigitale erweitern: Sendefrequenzen sowie die Gesamtheit aller Zeitungskioske oder aller Telefonprovider können als Plattformen bezeichnet werden. Und wenn wir schon dabei sind – warum dann nicht auch der öffentliche Nahverkehr, den Markt oder gleich die öffentliche Ordnung?«

Zentraler Punkt von Seemann ist, dass es einen Trend zur Plattform-Bildung gibt:

»Wie sich zeigen wird, werden außerdem Dinge, die bislang keine Plattform waren, zur Plattform. Plattformen entstehen dort, wo vorher Institutionen ihren Ordnungsanspruch erhoben. Die Plattform ist das dominierende Ordnungsprinzip der Zukunft und der neue Ort konzentrierter Macht.«

Gerade hat Tobias Bauckhage, CEO von moviepilot.com, mit “Platform or Publisher? Call it whatever you want. But it’s the future of media.” ein paar Gedanken zur Umstrukturierung und Zukunft der Film-News-Seite veröffentlicht. Der Tenor geht in eine ähnliche Richtung wie bei Seemann, argumentiert aber, dass moviepilot.com sich nicht von einem Publisher mit Redakteuren zu einer rein offenen Plattform wandelt, sondern eine Hybrid-Form entstanden ist: Eine stark wachsenden Community steuert  den redaktionell erstellten Inhalten Artikel bei. Die Redaktion und Algorithmen entscheiden, welche Community-Artikel als relevant gefeatured werden. Eine entgegengesetzte Bewegung ist bei Plattformen zu beobachten, die von der reinen Bereitstellung technischer Infrastrukturen zu einer Mischform mit kuratierter Auswahl und Herausstellung von Content übergehen:

Just five years ago this distinction still kind of worked. There were pure platform players like YouTube, Facebook, Twitter, Reddit or Tumblr. And there were pure publisher players like New York Times, Bloomberg and ESPN. Now look at each one of those old pure players. Can you still answer the question as easy as you could five years ago? YouTube just announced in September that it would invest heavily (again) into content creation. Facebook has direct relationships with brand advertisers discussing premium ad formats. Twitter has an editorial team. Reddit’s staff is editing AMAs with celebrities. And traditional publishers like Forbes have moved towards the platform model by starting contributor programs.

Auch medium.com zeigt Eigenschaften eines Publishers und einer Plattform, wie Mathew Ingram schreibt:

What we have here are a bunch of terms being used more or less interchangeably: “magazine,” “platform,” “publisher,” etc. In a nutshell, Medium is in that intermediary space between a traditional media company and a platform — a similar space to the one occupied by a number of other digital entities, including the Huffington Post, BuzzFeed, Forbes and Gawker (some have tried to coin a new word to describe this hybrid model, but I would rather not use it).

So on the one hand, Medium the platform allows anyone to publish, and then the crowd and the site’s algorithms and editors decide what content rises to the surface. At the same time, Medium has hired editors to run what it calls “collections,” which are essentially curated mini-magazines (and the tension between the magazine model and the platform model has caused at least one editor to leave the site and take her content elsewhere).

Schon Anfang des Jahres schlug Jonathan Glick den Begriff “Platisher” als Hybrid von “Platform” und “Publisher” vor:

What should we call a publisher — like Gawker — that provides a tech platform on whichanybody, not just its staff, can create content? What should we call a tech platform — like Medium — that has a team of editors and pays some contributors to create content?

It’s something in between a publisher and a platform — something that weaves together the strengths of both.

A platisher.

Don’t laugh. Okay, you can laugh, but we still need a name. There’s something new going on right now. A new generation of media companies is experimenting with opening their content-management systems to outsiders. Tech platforms are realizing the benefits of combining algorithms with editors and experts. This is resulting in a new hybrid.

Auch deutschsprachige Seiten experimentieren mit den neuen Mischformen. Eine der ersten, bei der ich das aktiv bemerkt habe, ist die IT-News-Seite Golem: Unter dem Stichwort “Autorenplattform” begann man sich für Blogger und Autoren zu öffnen. Der Fokus liegt hier noch deutlich auf redaktioneller Betreuung, zeigt aber den selben Trend zur Abwanderung vom reinen Publisher-Modell:

Golem.de wird damit nicht zu einer Plattform für “User Generated Content”, also Inhalten, die unbezahlte Nutzer ungeprüft einstellen. Uns geht es um qualitativ hochwertige Inhalte, die mit traditionellen Modellen im Internet bisher nur schwer umsetzbar sind. Es geht darum, Autoren, die dank sozialer Netzwerke ihre eigenen Leser mitbringen, Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen, die ihre eigenen Stärken sinnvoll ergänzen.

Ich bin gespannt, zu welchen Transformationsprozesse diese Änderungen in den nächsten Jahren führen. Persönlich bevorzuge ich derzeit Plattformen Platisher wie medium.com, die einerseits eine niedrige Eintrittsschwelle haben, mir zugleich aber (für mich) relevante Inhalte featuren. Diese Seiten liefern immer wieder großartige, lange Artikel, die ich gern lese. Auch bei Golem lese ich seit der Öffnung in letzter Zeit immer wieder überraschende Meinungsstücke, die ich dort nicht erwartet hätte. Große Verlagsseiten setzen eher auf eine Trennung zwischen Redaktion und Blogs, die ich in der Regel weniger interessant finde, da sie oft wie eine Klassifikation “guter Redaktionscontent” / “nicht-redaktioneller Blog-Content” wirken.

Dreifach-Disclaimer: Ich bin Crowdfunding-Unterstützer und Kapitel-Pate von Michael Seemanns Buch, arbeite für moviepilot.com und habe schon auf golem.de veröffentlicht.

Filed Under: Allgemein

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  1. Frage an FAZ-Redaktion: Warum wird auf faz.net #aufschrei-Autorin Wizorek mit Hass-Autor Pirinçci verglichen? sagt:
    24. Oktober 2014 um 16:40

    […] externer BloggerInnen und AutorInnen anreichern. Ich halte diesen Weg für einen Zwischenschritt vom Publisher zum Platisher. Es stellt sich die Frage, inwiefern sich eine noch vertikal arbeitende Online-Redaktion für diese […]