Es ist Freitagabend in Berlin und ich fahre von der Arbeit nach Hause. In die U-Bahn steigen zwei Frauen. Anfang Zwanzig, braungebrannt, schwarzgefärbte Haare, Zungenpiercing, Glitzerstein am Zahn. Sie schreit in das Handy „Gehst Du Montag Arbeitsamt?“ während schon das Handy ihrer Freundin ohrenbetäubend klingelt. Der Jugendliche neben mir sieht beide mit schmierigem Grinsen an und lässt weiter sein Mobiltelefon in schlechter Qualität davon berichten, dass jemand sich die Tante mit dem Onkel teilt. An der nächsten Station steigt Dieter ein. Woher ich seinen Namen kenne? „Ja, und hier ist wieder Euer Dieter. Ich bin kein Waschmaschinenvertreter…“ Berliner Straßenzeitungsverkäufer haben ihre eigene Lyrik und ihr eigenes Versmaß. Zwei Stationen nach Dieter betritt dann die jugoslawische Akkordeonfamilie die Bühne. Ein achtjähriges Mädchen hält mir einen Pappbecher vor die Nase und nimmt ihn erst weg, als ich zum dritten Mal den Kopf schüttele und vergebens den Vater (?) des Kindes böse ansehe.
Dies ist ein normaler Abend in einer normalen Berliner U-Bahn. Heute gab es keinen Streik, der zu einer Überfüllung der Bahn, zu Dichtestress, zu Rempeleien und angedrohten Schlägen führte. Ein normaler Abend, an dem doch eines auffällt: Wie wenig wir Akustik ausblenden können. Während ich die Augen schließe, um den Tag auszublenden, den Schal vor Mund und Nase halte, damit ich meinen Sitznachbar nicht riechen muss, kann ich meine Ohren nicht verschließen vor der Penetranz des Mitteilungsbedürfnisses aller fremden Menschen. Längst vergessen sind die Zeiten der Aufkleber in Bus und Bahn „Willst Du Deinen Walkman hören? Leise wird er niemand stören.“ Ich betrete die Bahn und bin zwei Minuten bis zur nächsten Haltestelle eingesperrt in einen Raum voll Mitteilungsbedürfnis, Aufmerksamkeitsmangel und Ignoranz. Einer akustischen Vergewaltigung gleichkommend, setze ich mich jeden Tag aufs Neue in diese Szenerie. Und letztlich sind es nicht die Bahnstreiks, auch nicht die steigenden Fahrpreise oder die mangelnden Sitzmöglichkeiten bei der einstündigen Anreise zum Arbeitsplatz am Morgen, die mich die Frage stellen lassen, ob ich nicht trotz aller Umweltfreundlichkeit auf das Auto umsteige, sondern einfach nur der Wunsch, dass einfach alle mal die Klappe halten.