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Caspar C. Mierau arbeitet als technischer Berater und denkt als Medienwissenschaftler, der zur Computergeschichte promoviert, über die Geschichte und Gegenwart von Technologie nach. Er schreibt und podcastet an der Schnittstelle von Praxis und Theorie, Technik und Kultur. Notiert kurze Gedanken auf Mastodon. Hat "Leitmedium" ganz offiziell als Künstlername im Ausweis stehen.

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Pathoskonferenz: “Ja, ich heule gerne.” (Schlingensief)

16. Oktober 2007 by leitmedium

Es sollte eigentlich ein längerer Bericht werden, jedoch findet sich keine Zeit zur Zusammenstellung und Recherche. Daher an dieser Stelle formlos die unvollständigen und nicht korrigierten Notizen von der hier bereits ngekündigten Pathoskonferenz. Sämtliche Fehler sind diesem Umstand zu entschuldigen. Zitate der Teilnehmer sind kursiv angegeben.

Teilnehmer:

  • Manfred Osten (statt Matthias Matussek)
  • Wolfgang Rihm – Komponist, Musikwissenschaftler und Essayist.
  • Peter Sloterdijk – Philosoph, Kulturwissenschaftler und Essayist.
  • Hans-Jürgen Heinrichs – Schriftsteller und Kulturanthropologe, Ethnologie
  • Christoph Schlingensief – Film- und Theater-Regisseur, Hörspielautor, Aktionskünstler und Talkmaster.

Heinrichs: Einführung in den Pathosbegriff, Zusammenhang von Gott und Musik, Zweideutigkeit der Musik, Kennedys „Ich bin ein Berliner“ als Pathos, Überwältigung, große Gesten, der Leib

Schlingensief: „ich weiß, dass es vorbei ist, aber ich will, dass es wieder wird“, Tod seines Vaters, Musik vom Ipod als Begleitung zum Dahinscheiden, nach Musikende „war mein Vater immernoch auf der Welt“, auf die Erschütterung muss die Gegenerschütterung kommen und die kann sehr still sein

Osten: Nietzsche: drei Stimulanzen: das Brutale, das Künstliche und das Idiotische, muss sich die Oper dieser drei bedienen?

Sloterdijk: Pathos-Begriff (-Idee) stammt aus der Zeit des Niedergangs der griechischen Demokratie (Warum geht sie nieder?), Demokratie als Herrschaft der Worte – gemeinsame Desorientierung, demokraten haben ein Ergriffenheitsdefizit, Ethos, Logos, Pathos als drei Ebenen der wirsamen Wortsteuerungen nach Aristoteles

Rihm: der singende Mensch ist bereits Pathos, Mozart aber beispielsweise ift völlig Pathos-frei, Pathos ist etwas Individuelles, je weniger man es inszeniert, desto überwältigender

Heinrichs: individueller Charakter des Pathos, schön im Wort „Ergriffenheit“, das im Gegensatz zu Überwältigung die aktive und passive, die interne und externe Seite zeigt, ein guter Pathetiker ist auch ein guter Techniker

Osten: „Wir sind ja heute schon Historiker, wenn wir die Tageszeitung von gestern gelesen haben.“

Rihm: Musik ist Pathos pur, wer da noch versucht, pathetisch zu sein, erwischt eine Tautologie

Sloterdijk: „Pathos ist immer bestelltes Gefühl … gewollte künstlerische Affektion“, Festigung der Gemeinschaft, früher nationaler Rahmen – durch Massengesellschaft heute auch auf eine Weltmassenkultur übertragbar

Schlingensief: „Wenn Musik gleich Pathos ist, brauchen wir ja gar nicht weiterreden“, wie schnell wird nach dem letzten Takt in der Oper bereits geklatsch – wo ist die Erregung? Heiner Müller: „Bitte noch ein Bier“

Osten: Warum ist im 19. Jh. ausgerechnet die Oper zum Ort des Pathos geworden? (Industrialisierung, Romantik als Wiederverzauberung der Welt), Apostheosen des Pathos – wir sind in dieser Hinsicht trockengelegt

Sloterdijk: Ausbruch des Pathos (der Oper ins Reale: Goebbels: „wollt ihr, dass Theater und Restaurants geschlossen werden für die totale Mobilmachung?), Pathosdüse geöffnet

Heinrichs: Instrumentalisierung des Pathos, Pathos ist „so etwas wie eine freie Valenz“, es ist für vieles einsetzbar, Anekdote mit Straub in Marx Brothers Film, trifft Leni Riefenstahl in der Wüste (gelebtes Pathos), Nuba-Fotografien wirken pathetisch aber nur für „uns“, Pathosgemeinschaft muss man herstellen … Pathos ist individuell, im Kontext ist er veränder- und missbrauchbar

Rihm: Antinomie Pathos – Aufklärung, Schlingensief sagt richtig, dass auch hinter der Bühne viel Oper stattfindet

Schlingensief: „Heute kann man wie der junge Dali hundert mal ‘Heil Hitler’ rufen und schon ist der halbe Prenzlauer Berg aus dem Häuschen“, Zukunft für ie Oper, „Ja, ich heule gerne“ – viele intellektualsieren das Gefühl in letzter Minute, statt es zuzulassen

Rihm: nur weil etwas abbricht, ist es nicht gleich intellektualisiert, vielleicht nur an der falschen Stelle abgebrochen

Osten: Pathos als Konstruktiv für die Tragödie, Frage an Sloterdijk: Darf man heute noch von Katharsis/Waschung sprechen? (verstummt, um Pathos durch Verstummen zu zeigen)

Sloterdijk: auch Mediziner und Politiker sprechen von Katharsis – wie die Rhetoriker; ohne eine gewisse Katharsis ist fehlt der Kunst der Höhepunkt und damit ist sie nicht, was sie sein sollte, Verstummen im Satz als Höhepunkttechnik in der Rhetorik, Technik spielt immer eine Rolle (Beispiel: kopiertes hohes C von Schwarzkopf bei Furtwängler)

Heinrichs: Lévi-Strauss: Handlung in der Oper egal, Musik ergreift – und Gegenbeispiel (Name leider nicht verstanden; Pathos in der Oper ist immer ein insteniertes aber auch ein abgeschwächtes, bringt Beispiele wie rituelle Schlachtungen oder Tod/Sterbearien

Sloterdijk: der Mensch ist normalerweise „unterergriffen“ – jeder Reiz ist willkommen, affektive Neutralität

Schlingensief: Anekdote mit Taube für den Dirigenten (Knappertsbusch, siehe Parsifal (Wissenswerte Kleinigkeiten))

Osten: Bedarf an Dopamin, Ausschüttung; Konkurrenz durch digitale Medien – Oper kann kaum noch Paroli bieten bei der Affektbildung, Frage an Schlingensief: Inwieweit muss man z.B. Film dazunehmen?

Schlingensief: „in der Kritik heißt es Geflimmer“, „ich hab das ja mehrmals gesagt, hier aber geht keiner darauf ein“, Heilige Johanna muss aus Ausflippen, Oper stoppen, Oper aus den Vierziger Jahren, bisher nur konzertant nicht szenisch aufgeführt

Rihm: Macht es Sinn, in eine noch nicht aufgeführte Opera derart einzugreifen?

Schlingensief: macht absolut Sinn, wird und soll auch keinen Krief geben

Rihm: Film kam nicht mitt

Sloterdijk: menschliches Ohr ist polygam, nicht monogam zu befriedigen, Europäer fassen sich an den Kopf wenn sie Lang Lang Klavier spielen sehen und möchten sagen „so war es nicht gemeint“, Hysterieexport

Ende.

Filed Under: Kultur, Kulturgeschichte, Liebe, Medien, Moderne, Musik, Philosophie, Veranstaltung, Wissenschaft

Trackbacks

  1. Zorn und Gotteseifer im 21. Jahrhundert - Peter Sloterdijk im Gespräch mit Manfred Osten | leitmedium.de sagt:
    26. Oktober 2007 um 11:11

    […] Pathoskonferenz: “Ja, ich heule gerne.” (Schlingensief) […]