Leitmedium

Es gibt kein analoges Leben im digitalen.

Caspar C. Mierau arbeitet als technischer Berater und denkt als Medienwissenschaftler, der zur Computergeschichte promoviert, über die Geschichte und Gegenwart von Technologie nach. Er schreibt und podcastet an der Schnittstelle von Praxis und Theorie, Technik und Kultur. Notiert kurze Gedanken auf Mastodon. Hat "Leitmedium" ganz offiziell als Künstlername im Ausweis stehen.

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Digitale Fürsorge – Wie Eltern ihre Kinder jenseits der Technik gegen Cyber-Grooming stärken können

21. Juni 2025 by ccm Leave a Comment

Vor kurzem wurde ich vom Tagesspiegel angefragt, als Medienwissenschaftler, IT-Berater und Vater von drei Kindern Empfehlungen zum Schutz von Kindern vor Cyber-Grooming zu geben. Cyber-Grooming bezeichnet die gezielte Manipulation junger Menschen über digitale Kanäle – oft mit dem Ziel, sie zu sexualisiertem Verhalten oder Selbstverletzung zu drängen. Die Grenze des Denkbaren ist dabei erschreckend offen. Aktueller Anlass ist der erschreckende Fall um die Festnahme und den Gerichtsprozess von “White Tiger”, einem unlängst in Deutschland vor Gericht gebrachten Mitglied eines weltweit agierenden sadistischen und mittlerweile in den USA als Terrororganisation eingestuften Netzwerks, das Kinder gezielt in den Suizid treibt.

In dem von der Journalistin Anna Pannen zusammengestellten Artikel (€) kommen neben mir mit Kerstin Claus, der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs und Iren Schulz, Medienpädagogin und Beraterin bei der Initiative „Schau hin!” des Bundesfamilienministeriums zwei wichtige Expertinnen zu Wort, die aus ihrer Perspektive Hinweise gaben. Der Artikel erschien am 19. Juni im Print-Tagesspiegel und Online.

(Screenshot: Der Artikel erschien am 19. Juni im Tagesspiegel – online und im Print. Aus rechtlichen Gründen hier nur unscharf.)

Es gibt natürliche viele hilfreiche Handreichungen für Eltern um das Thema Cyber-Grooming. Mir war es neben einem Hinweis auf die typischen technologischen Handgriffe, bei denen Eltern helfen können, vor allem auch, noch einmal zu betonen, wie wichtig ein Vertrauensverhältnis zwischen Eltern und Kindern ist, das von Aufmerksamkeit, Respekt und einer Ansprechbarkeit geprägt ist und zugleich verdeutlicht, dass nichts zu peinlich ist, um darüber nicht reden zu können. Denn genau da beginnen Spiralen der Erpressbarkeit. Ich lasse hier meine etwas formlose Antwort auf die Interviewanfrage, in der einige Vorlagen für den Artikel stehen:


Vielen Dank nochmal für Deine Anfrage. Gern steuere ich ein paar Gedanken bei, die Du gern verwenden oder mit mir morgen noch vertiefen kannst. Ich nähere mich dem Thema als Vater von drei Kindern, als Medienwissenschaftler – und auch als jemand, der beruflich wie persönlich mit digitaler Verletzlichkeit zu tun hatte.

Cybergrooming ist kein Randphänomen, sondern Ausdruck einer Struktur, in der Nähe, Vertrauen und Identität digital angreifbar geworden sind. Es braucht daher keine Panik, sondern Beziehung.

Im Alltag heißt das:

Eltern sollten versuchen, die Online-Welt der Kinder so ernst zu nehmen wie die analoge. So wie man nach dem Schultag fragt, sollte man auch über Erlebnisse im Netz sprechen – interessiert, nicht kontrollierend. Wer sich nur über TikTok-Memes oder YouTuber:Innen mit Sponsoring-Verträgen lustig macht, verschließt Türen. Wer aber fragt, wie es Online-Freund Kofferradio23 gerade so geht, zeigt Interesse. Medienzeit darf keine stille Parkzone sein, sondern ein Raum für Gespräche.

Dabei braucht es drei Dinge:

  • Vertrauen, dass Kinder Bedürfnisse haben und auch mal Quatsch machen dürfen (Was haben wir in dem Alter gemacht?),
  • Interesse, das Onlineleben als Teil ihrer Realität anzuerkennen (Man muss sich nicht anbiedern als Elternteil und kann dennoch interessiert nachfragen),
  • und Skepsis, die nicht alles verteufelt, aber fragt: Wer schreibt da eigentlich? Warum so viel Nähe? (Kluge Skepsis ist ein gutes Gegenmittel gegen viele Gefahren).

Ich erzähle meinen Kindern manchmal, wie ich als Teenager Mitte der 90er in Mailboxen über Wochen mit einer charmanten Chatpartnerin flirtete – und irgendwann merkte, dass es ein ChatBot war. Die Anekdote zeigt eine mir ein wenig peinliche Situation, über die ich heute lachen kann, die aber verdeutlicht, wie Online-Dienste schon immer auch in die Irre führen kann. Auf der anderen Seite hat jemand den ChatBot betrieben und sich wahrscheinlich ins Fäustchen gelacht. Wäre ich damit erpressbar gewesen? Nein. Aber wie sieht es dreißig Jahre später mit Fotos, Videos, Text-KIs und Onlineprofilen als Werkzeugen aus? Ich möchte nicht mit meinen Kindern tauschen und mich in diesem schwer durchschaubaren Chaos als wahr und falsch, Freund und Gefahr aufwachsen – aber an die Hand nehmen und gemeinsam durchschreiten.

Was oft zu kurz kommt: Scham ist ein zentrales Einfallstor für Täter. Viele Grooming-Fälle eskalieren, weil Kinder sich für eine Situation schämen, aus der sie nicht mehr herausfinden. Deshalb müssen sie wissen: Du kannst dich melden – auch wenn du denkst, du hast einen Fehler gemacht. Die Schuld liegt nicht bei dir. Täter*innen nutzen diese Dynamik gezielt aus.

Ein paar konkrete Punkte, die ich wichtig finde:

  • Gemeinsam Privatsphäre-Einstellungen durchgehen (Standort, Webcam, Sichtbarkeit).
  • In Spielen und Chats schauen: Kann man Fremde blockieren? Chats abschalten? Melden? Alterabhängig muss nicht jede Online-Funktion, die es gibt, auch genutzt werden. Hier ist Medienkompetenz der Eltern gefragt. Und falls man Schwierigkeiten hat: Hilfe holen, von Menschen, die sich damit auskennen.
  • Früh einüben, wie man Screenshots macht oder Hilfe holt – digitale Notwehr beginnt im Kleinen.
  • Und ganz grundsätzlich: Kinder sollten spüren, dass sie nicht allein sind mit dem, was ihnen online begegnet – egal wie peinlich, doof oder verwirrend es gerade scheint.

Medienerziehung ist heute weniger eine Frage der Technik, sondern der Beziehung. Wenn diese stark ist, kann auch das Netz kein Kind so leicht isolieren.

Herzliche Grüße

Caspar


Wer sich mit dem Thema vertiefend beschäftigen möchte, findet z. B. bei der Initiative Schau Hin! weitere Informationen zu Hintergründen und Schutzmaßnahmen.

  • Dokumentation “Hacker. Porträt einer Gegenkultur” auf DVD
  • Niedergang und Aufstieg des Filmkorns
  • Hyperland (2021) – Rezension

Filed Under: Allgemein

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