Geschafft. Einen Band Proust gelesen. Nein, das ist gelogen. Gehört. Ich habe es gehört. Den ersten Band In Swanns Welt aus Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Wie kam es eigentlich dazu? Da war diese eine Situation aus dem Studium in der in der Vorlesung der Madeleine-Effekt erklärt wird: Beim Essen einer Madeleine werden überwältigende (Kindheits-)Erinnerungen geweckt. Das ist nun sicher zwölf Jahre her. Den Effekt habe ich mir dennoch gemerkt (bei mir wird er durch Lerchen ausgelöst) und mit ihm das Buch.
Bis heute habe ich Schwierigkeiten, die Titel Hundert Jahre Einsamkeit und Auf der Suche nach der verlorenen Zeit namentlich auseinanderzuhalten. Mein Gehirn hat das irgendwie in der selben Synapse abgelegt. Danke für nichts. Jedenfalls war ich mal wieder mit einem Hörbuch durch. Seit ein paar Jahren höre ich möglichst lange Hörbücher – vor allem beim Rad-, Bahn- und Autofahren. Ab 20 Stunden wird es interessant, auch 50 Stunden kamen schon vor (ich habe mich bei „The Stand“ mit Stephen King ausgesöhnt – was für ein Erzähler!). Für so lange Hörbücher braucht man „gute“ Literatur, sonst übersteht man die ersten Stunden nicht, egal, wie gut vorgelesen wird. Gelegentlich stochere ich also im Hörbuch-Katalog rum auf der Suche nach einem möglichst langen Roman.
Diesmal die Idee „Gibt es nicht Prousts … hier… das mit der Zeit“ als Hörbuch? Ja, gibt es. Sieben Bände, 156 Stunden. Challenge accepted.
Und dann das: Ein inhaltlicher Auffahrunfall. Während ich so durch die Stadt fahre, muss ich mit anhören, wie ein Ich-Erzähler stundenlang aufwacht. Wortwörtlich: Jemand liegt im Bett und beschreibt das Erwachen. Es war ein wenig unerträglich und ich verstand, dass man dieses Buch schnell wieder weglegt. (Und das tun wohl viele. Während der erste Band heute als eBook immer noch 18 Euro kostet, sind alle übrigen Bände zusammen für einen Euro zu haben.) Doch das Angenehme beim Hörbuch: Man kann es laufen lassen. Also lief es weiter und so langsam fühlte ich mich ein. In den Erzähler, das Erzählte, die schrulligen Charaktere, die Liebesdramen, die Langeweile, die viel zu üppige Erzählweise. Ich begann zu ahnen, dass Proust nicht nur eine Geschichte aufgeschrieben, sondern über das Schreiben geschrieben und sich selbst engmaschig damit verflochten hat.
Meine siebenjährige Tochter hörte einmal zufällig zu und erbat sich das Hörbuch zum Einschlafen, weil „es so schön ruhig sei“. Ich begann es also von vorn und nun, beim zweiten Anlauf, konnte ich die Worte genießen, die mich beim ersten Mal vor den Kopf stießen:
»Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen. Manchmal, die Kerze war kaum gelöscht, fielen mir die Augen so rasch zu, daß keine Zeit blieb, mir zu sagen: Ich schlafe ein. Und eine halbe Stunde später weckte mich der Gedanke, daß es Zeit sei, den Schlaf zu suchen; ich wollte das Buch fortlegen, das ich noch in Händen zu halten wähnte, und das Licht ausblasen; im Schlaf hatte ich weiter über das eben Gelesene nachgedacht, dieses Nachdenken aber hatte eine eigentümliche Wendung genommen: mir war, als sei ich selbst es, wovon das Buch sprach – eine Kirche, ein Quartett, die Rivalität zwischen Franz I. und Karl V.«
Wie konnte ich das nur beim ersten Mal überhören? Der Ich-Erzähler wähnt sich selbst als Subjekt eines Buches – und schläft beim Lesen dieses Buches ein. Was für ein fast unverschämtes Spiel mit Lesenden, wenn man am Beginn eines mehrere tausend Seiten langen Romans steht und miterleben, wie selbst der Protagonist über dem Buch einschläft.
Und am Ende dieses ersten Bandes, nach einer absurd überdramatisierten Liebesgeschichte, wird die Suche nach der verlorenen Zeit selbst benannt: Die Suche nach der Zeit, die sich nur in unserer Erinnerung befindet. Die ewige Wehmut nach dem, was da war und die unendliche Trauer, dass sich alles verändert. Die flanierenden Damen und Pferdekutschen sind Straßen mit eilenden Menschen und Kraftfahrzeugen gewichen. Eine kulturelle Trauer, die wohl immer aktuell sein wird.
Nach dem ersten Band kann ich so viel festhalten: Es ist ein Meta-Roman. Ein Roman über Romane, über das Schreiben, über das erzählende und das lesende ich, über das ewige Versagen und über den Beweis mit dem Roman selbst das zu schaffen, was dem Ich-Erzähler selbst verwehrt bleibt – einen Roman zu schreiben.
Ich bin überrascht, wie viel Freude es mir macht, den ausufernden Beschreibungen Prousts zu folgen. Meine Lieblingsstellen sind jene, in denen die Akteure in ihrer schrullige, kauzigen Art übereinander in distinguiertem Ton lästern oder affektiert Selbstverständlichkeiten feststellen. Manchmal möchte man sie schubsen und sagen „Jetzt mach doch endlich!“, aber es ist genau jene Muße, die Auf der Suche nach der verlorenen Zeit zu einem üppigen Lese-/Hörerlebnis macht, bei dem man die eigene Zeit, von der man ja immer zu wenig, einfach verplempert. Wie ein Flaneur im Paris des 19. Jahrhunderts.
Zum Weiterlesen: Mein neues Fahrrad (über die aktuelle Suhrkamp-Ausgabe), Auf der Suche nach der verlorenen Zeit ist nicht nur ein grandioser Roman, sondern der perfekte Ratgeber für alle Lebenslagen (Aha?”), Wie Marcel Proust mein Leben veränderte (Sorry, WELT-Link), Marcel Proust: Ekstasen der Erinnerung (über die kommentierte Fischer-Ausgabe)
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Bildnachweis: CC0 Public Domain auf Pixabay