Seit mehr als zwei Jahren schreibe ich Tagebuch. Jeden Tag. Das ist nichts Besonderes und doch wurde ich mehrfach gebeten, darüber zu schreiben. Der Grund für diese Bitten liegt scheinbar in der Faszination, die meine eher exotische Herangehensweise an das Thema ausstrahlt.
Vom Nicht-Schreiben
Es ist ein Allgemeinplatz, dass man Tagebuch schreibt, um es dann doch nicht zu tun. Man weiß nicht, ob der Tag wichtig genug war, oder ist abends zu erschöpft zum Schreiben. Die pragmatischste Herangehensweise für mich war daher das vollständige Ablegen literarischer Ansprüche durch Festlegung eines Standards. Dieser Standard sollte jegliche Ausreden, nicht Tagebuch zu schreiben, aus der Welt schaffen: Tage sollten nicht mehr zu unwichtig, der Schreibvorgang nicht anstrengend und im Idealfall überall möglich sein. Ohne die Entscheidung genau begründen zu können, entwarf ich folgende Richtlinie:
Das Format
Ein Tagebuch-Eintrag besteht aus einer einzeiligen Überschrift und einem fünfzeiligen Inhalt. Die Überschrift enthält Datum, Wochentag und Ort in der Form „2011-11-12 Samstag Berlin“. Der Inhalt ist fünf Zeilen zu je maximal achtzig Zeichen lang.
Diese Form wird natürlich nicht der Heterogenität des Lebens gerecht, aber genau das soll sie auch nicht. Tage, an denen man einer gewohnten Routine nachgeht, bekommen genauso viel Raum wie Tage mit außergewöhnlichen Ereignissen. Manchmal scheint es schwierig, fünf Zeilen zu füllen, manchmal muss man Sätze kürzen, um Ziel und Limit zu erreichen. Der besondere Effekt ist, dass Ereignisse, an die man sich wahrscheinlich auch ohne die Fünf Zeilen erinnern würde, nur wenig, Alltag und kleine Erlebnisse, die man gern vergisst, überhaupt Raum bekommen. Geburten und Begräbnisse stehen neben Wochenendeinkauf und Büro.
Jeden Abend schreibe ich also fünf Zeilen. Durch das einfache Format eignet sich nahezu jeder Text-Editor auf jedem erdenklichen Gerät. Je nach Situation schreibe ich die Zeilen auf einem Laptop oder Handy. Gelegentlich hole ich es erst am Folgetag nach, wobei sich herausgestellt hat, dass tagesfrische Notizen deutlich lebendiger wirken als bereits memorierte. Durch einen Cloud-basierten Dienst wird die Textdatei zwischen den Geräten synchronisiert und kann jederzeit an jedem Ort bearbeitet werden. Im Büro, zu Hause, in der U-Bahn. Das Ergebnis sind bisher über neunhundert lückenlose Einträge.
Nur nicht weiter Formalisieren
Das vorliegende Format lädt dazu ein, zum Beispiel durch einen Web-Editor oder automatische Korrekturen weiter formalisiert zu werden. Aber genau diese Möglichkeiten lenken von der Schlichtheit der Methode ab. Sie konterkarieren den eigentlichen Grundgedanken: Es wird nur eine Textdatei geschrieben. Die Benutzung eines beliebigen Texteditors hingegen lenkt nicht vom Schreibprozess durch grafisches oder interaktives Beiwerk ab. Die in wenigen Worten zusammenfassbare Form-Vorgabe ist so gewählt, dass sie ohne Nachdenken erfüllt werden kann, theoretisch sogar auf Papier möglich ist.
Der tägliche Rückblick per E-Mail
Dennoch ergeben sich im Nachhinein weitere Verarbeitungsmöglichkeiten. Eine Möglichkeit ist das automatisierte Versenden von Beiträgen. Nach dem ersten Jahr habe ich damit begonnen, mir jeden Morgen per E-Mail den Eintrag vom gleichen Tag des letzten Jahres (mittlerweile der zwei letzten Jahre) zuschicken zu lassen. Jeder Tag beginnt also mit einer Retrospektive – heute vor x Jahren. Den Effekt dieses Rückblicks kann man nur schwer beschreiben – Zeit beginnt sich anders anzufühlen, Tage stehen über Jahresgrenzen hinweg in einer Beziehung. Muster ergeben sich oder verfliegen.
Genauso interessant ist die zufällige Auswahl eines Tages. Es bildet zwar keine direkte zeitliche Brücke, bietet aber oft die Möglichkeit, Ereignisse noch einmal zu beleuchten und aus der heutigen Perspektive zu bewerten,
Die Konkurrenz
Im Netz gibt es unzählige Angebote, die das Schreiben von Tagebüchern erleichtern sollen. Viele beginnen genau da, wo der Fünf-Zeilen-Ansatz schon aufhört: Sie formalisieren weiter und bauen eher schicke interaktive Datenbanken statt einfacher Tagebücher. Von der Idee her am besten gefallen hat mir der Dienst OhLife. Hier wird man täglich per E-Mail aufgefordert, mit einem Journal-Eintrag zu antworten. Man schreibt sein Tagebuch also per E-Mail. Dieser Ansatz ist charmant, hat aber zwei Schwächen: Erstens ist die Form wieder sehr offen und man steht schon bei der Anrede (es ist ja eine E-Mail) vor der Frage, was man genau schreiben soll. „Hallo?“ Zweitens – auch wenn ich mich mittlerweile nicht mehr zu den Datenschutzfanatikern zähle – ist die Festlegung auf einen externen Dienstleister für ein Tagebuch schon befremdlich. Gerade, wenn der Dienst kostenlos ist.
FutureMe bietet die Möglichkeit, sich zu einem bestimmten Tag in der Zukunft eine E-Mail zu schicken. Das ist kein klassisches Tagebuch, kann bei kreativer Nutzung aber sicher spannende Effekte erzielen. Doch auch dies ist viel zu exotisch, um die Hürde der täglichen Nutzung meistern zu können. MyFutureSelf scheint ein klassisches Online-Tagebuch zu sein. IDoneThis fokussiert sich auf erledigte Tätigkeiten, schreibt aber wie FutureMe täglich eine E-Mail, die beantwortet werden kann.
Ein paar Worte zur Technik
Und nun nur für technisch interessierte Leser ein paar Worte zur Technik. “Fünf Zeilen” benötigt lediglich eine Text-Datei. Sie folgt dem Muster:
JJJJ-MM-DD Tag Ort [Leerzeile] Zeile1 Zeile2 Zeile3 Zeile4 Zeile5 [Leerzeile]
Ein Eintrag hat somit immer genau acht Zeilen inklusive Leerzeilen und Überschrift.
Einzige technische Voraussetzung an den Editor ist ein automatischer Zeilenumbruch bei 80 Zeichen und der korrekte Umgang mit Umlauten. Um mir die Arbeit etwas zu erleichtern, habe ich (mit Hilfe von mnemonikk) kurze Skripte geschrieben, die die Überschriftzeile automatisch erstellen. Ein Beispiel für Emacs:
(defun next-date () (interactive) (condition-case nil (insert (format-time-string "%Y-%m-%d %A Berlinn" (time-add (date-to-time (format "%s 00:00:00" (save-excursion (re-search-backward "^20[0-9][0-9]-[01][0-9]-[0123][0-9]") (match-string 0)))) (seconds-to-time (* 24 3600))))) (search-failed (message "No date found!") nil))) (global-set-key "C-xM-i" `next-date) (provide 'my-next-date)
Die tägliche E-Mail wird durch ein sehr einfaches Shell-Script erzeugt. Es wird lediglich ein regulärer Ausdruck auf die Textdatei losgelassen und das Ergebnis per E-Mail verschickt. Tatsächlich ist es nur ein Einzeiler:
grep -A 6 "^....-$(date '+%m-%d')" DATEI | | sed "s/^--$/ /" | mail -s "Fuenf Zeilen vom $(date "+%d.%m.")" MAILADRESSE
Ähnlich simpel (und sicher verbesserungswürdig) ist die Suche eines Zufallseintrags:
#!/bin/bash ANZAHL=`cat DATEI|grep -e "^20..-..-.." |wc -l` number=$RANDOM let "number %= $ANZAHL" let "number = $number*8+1" sed -n $number,+6p DATEI
Trotz der hier genannten technischen Möglichkeiten ist es wichtig, noch einmal zu betonen, dass diese nur ein Surplus sind. Sie sind nicht notwendig, dafür aber möglich, was unter anderem den Charme der Fünf-Zeilen-Lösung ausmacht.
Weitere mögliche Programme könnten die Datei auf eine valide Datenstruktur prüfen, Worthäufigkeiten visualisieren (z.B. ähnlich zu Wordle), nach vordefinierten Stichwort-Suchen bestimmte Muster zeigen, und so weiter. Hier scheint es wichtig zu sein, nicht der Versuchung zu erlegen, das einfache Muster durch weitere Metadaten wie Schlagworte anzureichern, um den Schreibaufwand nicht unnötig in die Länge zu ziehen.
Coole Idee. Ich habe OhLife mal ausprobiert, es aber nur 2 Monate durch gehalten. Mir hat gefallen, dass ich den “Texteditor E-Mail” jetzt schon immer und auf jedem Gerät verfügbar habe. Vielleicht fange ich es wieder an und schreibe nur 5 Sätze bzw Zeilen… Geolocation ist auch eine gute Idee. 🙂
Hallo Caspar Clemens Mierau,
die Idee mit der stark eingeschränkten Menge an Buchstaben für ein tägliches Tagebuch fasziniert mich sehr. Gerne wüsste ich, wie ich an so eine Format-Vorlage bekommen kann. Kann man sie irgendwo herunterladen? Von Ihrem selbstgeschriebene Script verstehe leider nichts.
Mit freundlichen Grüßen und besten Dank im Voraus
Michael