Leitmedium

Es gibt kein analoges Leben im digitalen.

Caspar C. Mierau arbeitet als technischer Berater und denkt als Medienwissenschaftler, der zur Computergeschichte promoviert, über die Geschichte und Gegenwart von Technologie nach. Er schreibt und podcastet an der Schnittstelle von Praxis und Theorie, Technik und Kultur. Notiert kurze Gedanken auf Mastodon. Hat "Leitmedium" ganz offiziell als Künstlername im Ausweis stehen.

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Rückzug aus der televisionierten Gesellschaft

5. Juli 2008 by leitmedium

Der Rueckzug aus der televisionierten Gesellschaft begann mit einem
Kontakt in der telefonierten Gesellschaft: >Guten Tag, ich bin
umgezogen und moechte den Kabelanschluss anmelden.< – >Das kostet
einmalig dreissig Euro, dann dreizehn Euro im Monat<. Diese Antwort,
diese beneidenswert praezise Auskunft war einer jener Wegpunkte, an
denen man retrospektiv einen Lebenswandel festmacht. Ein einfaches
>Ja< haette gereicht, um die Geschichte an dieser Stelle zu
beenden. Doch in Kafkaesker Uebermut brach das Protokoll durch einen
unverschaemten Einwand: >Der Anschluss funktioniert bereits, es muss
ja niemand vorbeikommen, das Abonnement genuegt< – >Das
Anschliessen kostet dreissig Euro. Immer<.

Ein aussichtsloses Gespraech zeichnete sich ab. Dem patenten
Dialogpartner war mit etymologischen Herleitungsversuchen des Wortes
>Anschluss< kaum beizukommen. Logische Argumentationsketten
wurden durch wiederholtes Aufsagen der Formel >…kostet dreissig
Euro< performativ ausgehebelt [vgl. Austins >How to do things
with words<]. Ein gefuehlter, ein Windchill-Che-Guevara uebernahm
das Gespraech und fuehrte den Stolz zum Sieg und die Pragmatik ad
adsurdum: Das Abonnement wurde nicht abgeschlossen. Sollten sie doch
kommen und es abschalten. Sollten sie doch kommen. Sie kamen nicht.
Anderthalb Jahre. Taktik.

Erst als man sie nicht mehr erwartete, klingelte ein mit kariertem
Hemd getarnter Konter-Revolutionaer und saeuselte zum Klicken seines
Kugelschreibers: >Guten Tag, ich habe Ihren Kabelanschluss
abgeklemmt, sie wollten ihn ja nicht … Komma oder Fragezeichen<. Er
bemuehte sich, durch Heben der Stimme am Satzende und Einbauen einer
Kunstpause einem peinlich beruehrten >Ach, wir haben einen
Kabelanschluss? Nein, schalten Sie ihn bitte an, wir unterschreiben
gern das Formular, in dem Sie bereits unsere Namen vorsorglich
ausgefuellt haben< einen entspannten Rahmen zu geben, der in etwa
einer >Hallo, Herr Kaiser< -Reklame entsprach.

Doch abermals lag Revolution in der Luft. >Spiel mir das Lied<
vom Tod toente aus dem Off und nur ein rollender Strohballen trennte
die Kombattanten. Achtzehn Monate subversiv-egoistische
System-Untergrabung, das wuerde ER nicht beenden. Nein, keine
Anschlussgebuehr. Der Uebermut uebernahm die Steuerung.

Dabei drohte das Chaos. Der Tatortabend. Belaecheltes deutsches
Familienritual, gelegentlichen >Frueher war es
besser<-Kommentaren ausgesetzt. Nichtsdestotrotz, er nahte. Jedoch
ohne Chance auf Realisation. Untergang des Abendlandes [Umrisse einer
Morphologie der Weltgeschichte]. Keine Moeglichkeit >er wars!< zu
rufen und mit Anmerkungen wie >Was fuer ein schlechtes Drehbuch<
und >Ich kann dieses Ermittlerteam nicht leiden, aber gute
Kamerafuehrung< auch den letzten Mitseher von der Geschichte
abzulenken.

Die Tragoedie nahm eine erleichternde Wendung, als ein deus-ex die
materialisierte Resistance in einer kleinen Schachtel uebergab.
>DVB-T-Receiver mit Aktivantenne<, so klingt Widerstand heute,
dachte man sich und gab sich in die Haende eines neuen Abenteuers.
Keine Kalaschnikow, kein roter Schriftzug, aber ein von verstoerend
grobpixeligen UEberraschungen unterbrochenes Fernsehvergnuegen boten
die graue Schachtel und das lange Kabel, das nun eine meterlange
Schneise durchs Zimmer zum Fenster markiert. Das Medium wird wieder
sichtbar. Fernsehen bedeutet nun manifeste Stolpergefaehr,
Wetter-Abhaengigkeit und keine Aufnahmemoeglichkeit mehr mit
ueberteuerten Geraeten, die erst wenige Monate vorher angeschafft
wurden. Was alles ertraeglich war, denn die dreissig Euro, sie wurden
nicht zweckentfremdet und der Tatort schepperte auch weiterhin sonntags
in leicht veraenderter Grobkoernung ueber den Bildschirm. Revolution
ist eben Lo-Fi. Schon immer.

Der Konflikt hat sich zugespitzt. Die DVB-T-Fernbedienung ist einer
hektischen Aufraeumaktion zum Opfer gefallen – so die vorlaeufige
Diagnose – und das Umschalten am Geraet ist der letzte Stand des
heimischen Fernseh-Dispositivs, Fernsehen, das waren einmal dutzende
Kanaele in verschiedenen Sprachen zu hunderten Stunden auf einen
Festplattenrekorder aufgenommen. Nun ist es das Sehen von
>Ausstrahlungen<, nachdem man sich aus reiner Bequemlichkeit fuer
einen Sender entschieden hat. Jedoch ist es nicht schlimm, es ist keine
Beschraenkung, es ist einfach nur anders. Es ist kein Politikum eines
Waldorfschen >Nein, wir nicht<, sondern schlichte Tatsache des
Ein-Kanal-Fernsehens mit Wetter-Diagnose. >Wir haben schlechten
Empfang – es regnet bestimmt<. Das war vorher nicht moeglich. Dabei
haette es dreissig Euro fuer den Anschluss gekostet.

(Text bereits erschienen in der “Berliner Gazette“)

  • Weihnachtssarkasmus bei Kabel Deutschland oder warum eine Antenne auch irgendwie subversiv ist
  • Wenn es riecht, dann geht man. Warum die Wissenschaft nicht auf X bleiben muss.
  • Ogo. Oder wie man Taschengeld sammelt.

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